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Wer immer das Gleiche verhandelt, ändert nichts

Verpasste Ziele, gerissene Fristen, laufende Verfahren
2017/2018 war die Aufbruchsstimmung unter Therapeuten noch groß: Demos, Kreideaktionen auf der Straße und eine Fahrradtour nach Berlin, neue Verbände und Organisationen, Empörung in Social Media-Gruppen und das Kapern von Ministersprechstunden hatten für einen gesetzlichen Neustart über das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) gesorgt. Und jetzt, nach vier, davon zwei Pandemie-Jahren ist von der Hoffnung auf wirkliche Veränderung nicht viel in die Versorgungsverträge mit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hinübergerettet worden. Hier einmal eine Bestandsaufnahme.
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Früher wurden auf Bundesebene sogenannte Rahmenempfehlungen zwischen GKV-Spitzenverband und Heilmittelverbänden vereinbart, die dann regional zwischen Heilmittelverbänden und den Kassen auf Landesebene in Rahmenverträgen umgesetzt wurden. Diese Rahmenverträge unterschieden sich sowohl nach Kassenart, als auch nach Berufsgruppe. Im Ergebnis gab es mehr als 100 Rahmenverträge in ganz Deutschland mit ebenso vielen unterschiedlichen Regeln und Preislisten.

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) wurde unter dem früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn diesem überbordenden Bürokratismus durch eine grundlegende Reform der Vertragssystematik zwischen der GKV und den Heilmittelverbänden ein Ende gesetzt. Zum 1. Juli 2019 wurden bundeseinheitliche Preise eingeführt, dann sollten bundeseinheitliche Verträge je Berufsgruppe zwischen GKV-Spitzenverband und den jeweiligen Heilmittelverbänden auf Bundesebene vereinbart werden.

Nach wie vor viele Unstimmigkeiten bei den Verträgen

Während die Umsetzung der bundeseinheitlichen Preise zum 1. Juli 2019 reibungslos geklappt hat, ist das Thema bundeseinheitliche Verträge auch zu Beginn des Jahres 2022 noch immer nicht abgeschlossen. Die Podologen waren die einzige Berufsgruppe, die zum 1. Januar 2021 einen verhandelten Vertrag in Kraft treten lassen konnten. Die Logopäden trafen sich vor der Schiedsstelle. Drei Verbände und der GKV-Spitzenverband überstimmten schließlich den einzigen Verband, der ausschließlich Praxisinhaber vertritt. Der Vertrag trat dann am 16. März 2021 in Kraft. Die Physiotherapeuten benötigten zwei Schiedsstellen-Anläufe, um dann am 1. August 2021 einen Vertrag in Kraft treten zu lassen, der bei der Leistungsbeschreibung immer noch strittig ist und mittlerweile vor Gericht angefochten wird. Seit 16. Oktober gilt der Versorgungsvertrag der Ernährungstherapeuten, auch hier ist noch das Thema Vergütung in der rechtlichen Klärung.

Die Ergotherapeuten sind schon vor dem inzwischen veröffentlichten Schiedsspruch ihres Vertrages vor dem Sozialgericht gelandet, weil sie die Unabhängigkeit der unabhängigen Schiedspersonen und die Umsetzung der gesetzlichen Aufgaben durch die Schiedsstelle grundsätzlich in Frage stellen. Der Ergo-Vertrag ist am 1. Januar 2022 damit als letzter offener Vertrag in Kraft getreten, die rechtliche Klärung über die rechtskonforme Arbeit der Schiedsstelle dauert dagegen für drei Berufe weiter an. Man darf gespannt sein, denn die Schiedsstelle hat objektiv nachvollziehbar mehrfach gesetzlich vorgegebene Termine/Aufgaben nicht beachtet.

Fristen wurden reihenweise gerissen

Dabei hat das TSVG sehr genau Termine vorgegeben, zu dem die Schiedsstelle besetzt sein und die Versorgungsverträge geschlossen sein sollten. Praktisch alle Termine wurden um Monate und Jahre überschritten. Und das, obwohl Pandemie-geschuldet Termine bereits um viele Monate verlängert wurden. Zum Jahresbeginn 2022 hätte eigentlich ein Schiedsspruch zur Blankoverordnung veröffentlich werden müssen, so jedenfalls steht es ausdrücklich in § 125a Abs. 3 SGB V. Aber das ist bislang nicht passiert. Die Schiedsstelle wollte sich dazu auch nicht äußern. Die Podologen haben ja schon angekündigt, ihre Vereinbarung über die Blankoverordnung erst im Mai 2022 vorlegen zu wollen. Immerhin schon mal ein erster Schritt, denn alle anderen Berufsgruppen äußern sich eher gar nicht zu diesem Thema.

Nun ist das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Coronazeiten stark belastet, aber man fragt sich schon, warum sich in Berlin niemand darum kümmert, dass Gesetze bzw. Terminvorgaben in den Gesetzen eingehalten werden. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es schlicht niemanden interessiert. Heilmittelerbringer sollen sich, so hat es Spahn bei einem Auftritt vor Heilmittelerbringern mal gesagt, doch bitte die von ihm deutlich verbesserten Rahmenbedingungen zu eigen machen und selbst aktiv werden – frei nach dem Motto: Jetzt müsst ihr, die Verbände, mal zeigen, dass ihr verhandeln könnt.

Gestaltungswille? Fehlanzeige!

Betrachten wir einmal die Zeitachse, dann hat das wohl nicht geklappt. Auch was den Zusammenhalt der Verbände untereinander angeht, haben sich einige Berufsgruppen wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Zu leicht lassen sich die Heilmittel-Berufsgruppen gegeneinander ausspielen und sogar innerhalb der Berufsgruppen schafft man es oft nicht, sich auf klare Ziele zu einigen.

Spahn hatte ein Fenster für Veränderungen der Heilmittelbranche geöffnet und weder der GKV-Spitzenverband noch ein Teil der Heilmittelverbände haben hinausgeguckt, geschweige denn, mögliche Veränderungen aktiv vorangetrieben. Die aktuell vorliegenden Versorgungsverträge sind ärgerlicherweise nichts weiter als eine Sammelstelle der bisherigen Rahmenverträge auf Landesebene. Aufbau, Struktur und Einseitigkeit der Regelungen entsprechen mal mehr, mal weniger den bisherigen Vereinbarungen. Innovation, Augenhöhe zwischen den Vertragspartnern und Antworten auf die dringendsten Fragen der Heilmittelversorgung sucht man jedoch vergebens.

Der Grund: Die immer gleichen Personen verhandeln die immer gleichen Fragen

Das vielleicht größte Problem der Dauerbaustelle Versorgungsverträge: Dieselben Verhandlungspartner, die schon seit Jahrzehnten um die immer gleichen Themen streiten, machen einfach so weiter wie bisher. Es geht nicht um das große gemeinsame Bild einer besseren Heilmittelversorgung, sondern scheinbar darum, endlich auch eine Befundposition zu bekommen. Es geht wohl nicht darum, wie man Patienten nach Evidence-Based-Practice im ambulanten Kontext angemessen betreuen kann, sondern darum, ob ein Kreuz auf der Verordnung an der richtigen Stelle sitzt. Es geht nicht darum, wie Kassen und Heilmittelerbringer gemeinsam die Unter-, Fehl- und Überversorgung in den Griff bekommen können, sondern wie alt ein Kind sein muss, damit es unterschreiben kann.

Insofern hat Ex-Minister Spahn recht: Wenn die Heilmittelbranche nicht in der Lage ist, die großen, relevanten Themen in Verhandlungen angemessen zu platzieren, dann muss sie sich auch nicht wundern, wenn sie am Formalismus geübter GKV-Verhandler grandios scheitert. Wer immer das Gleiche verhandelt, der ändert auch nichts.

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