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„Die Verbände haben dafür gesorgt, dass keine echte Verhandlung stattfinden kann“

Interview mit einem Insider der Rahmenvertragsverhandlungen Physiotherapie
Nach über eineinhalb Jahren fiel im August 2021 ein Schiedsspruch zum bundeseinheitlichen Rahmenvertrag Physiotherapie. Wir haben mit einem Insider gesprochen, der zu Beginn Teil des Verhandlungsteams auf Verbandsseite war. Er berichtet uns, warum es falsch ist, dem GKV-Spitzenverband die alleinige Schuld für das Versagen hinsichtlich zielführender Verhandlungen in die Schuhe zu schieben.
© ImagineGolf

Sie waren Teilnehmer des Verhandlerteams für den Bereich Physiotherapie. Wie haben Sie die Verhandlungen erlebt?

INSIDER: Am Anfang war die Energie bei allen Beteiligten vorhanden. Im Laufe der Verhandlungen wurde aber schnell klar, dass man auf der Stelle tritt. Ein Grund war, meiner Meinung nach, dass es im Bereich der Physiotherapie ein Verhandlungsführer von Seiten der Kassen gab, der keine Erfahrungen damit hatte.

Aber ich möchte das gar nicht allein auf die Kassen abwälzen. Die Verbände haben dafür gesorgt, dass keine echte Verhandlung stattfinden kann. Es gab zum Beispiel Momente, in denen der GKV-Spitzenverband gesagt hat: Wir sind jetzt beim Punkt xy. Wenn uns die Verbände ein bisschen entgegenkommen in unserer Formulierung, dann würden wir auf die Formulierung der Verbände in Punkt yz einstimmen. Dann kam vom Verhandlungsführer der Verbände immer ein „Nein“. Die Verbände beharrten auf ihrer Position. Und das ist für mich keine Weise, zu verhandeln.

Warum ging das so einfach? Konnte der Verhandlungsführer das so einfach entscheiden? Haben Sie sich vorher nicht abgestimmt?

INSIDER: Doch, das haben wir. Aber vieles geschieht im Laufe der Verhandlungen, wo man sich nicht mehr so abstimmen kann. Das Problem ist, dass einige Verbände einfach Getriebene sind. Sie haben große Angst vor einem Mitgliederschwund, der das eigene Überleben infrage stellen würde. Natürlich haben die Verbände versucht, ihre Mitgliederforderungen irgendwie umzusetzen. Dann kam oft: Wir beharren auf unserer Position und geben den Punkt an die Schiedsstelle. Da galt die Prämisse: Wenn die Schiedsstelle das jetzt so entscheidet, dann ist es so. Aber wir haben nicht nachgegeben!

Das führte dazu, dass beim ersten Schiedsstellentermin noch über 70 Punkte offen waren.

Finden die Verhandlungen mit der GKV denn insgesamt auf Augenhöhe statt? Oder gibt einer den Takt vor?

INSIDER: Das ist schon ausgeglichen. Es gibt immer Punkte, bei denen eine Seite etwas stärker ist als die andere. Die Kassen haben sich aber wesentlich professioneller aufgestellt als die Verbände und sind meiner Meinung nach auch besser vorbereitet in die Gespräche gegangen. Da hatte einfach jeder seine zugedachte Rolle im Drehbuch. Bei den Verbänden war das Problem, dass die Professionalität abgenommen hat. Der Verhandlungsführer lässt sich zuarbeiten und steckt dann einfach nicht mehr so tief in den Themen drin, konnte auf Rückfragen keine Antwort geben. Wenn man zudem merkt, dass die Verhandlungen festgefahren sind, dann muss man personelle Veränderungen vornehmen.

Was hätten Sie sich bei den Verhandlungen gewünscht?

INSIDER: Es wäre einfach besser gewesen, wenn jeweils drei bis vier fachkundige Leute auf Kassen- sowie Verbandsseite die Verhandlungen geführt hätten. So hätte man diesen Rahmenvertrag deutlich besser organisiert bekommen. Dann wären die Verhandler in drei bis fünf Tagen fertig gewesen.

Ich hätte mir zudem gewünscht, dass beiden Seiten sich ein weißes Blatt Papier genommen, die groben Punkte gemeinsam festgelegt und sich von dort aus dann entwickelt hätten. Im Grunde hat man jetzt nur die Rahmenvereinbarungen genommen und sie an vielen Stellen angepasst. Da hätte ich mir mehr Modernisierung erhofft.

Modernisierung ist ja auch bei den Zertifikatspositionen nicht eingetreten. Warum ist hier alles wie früher?

INSIDER: Die Verbände haben den Vorschlag gemacht, die Stunden bei einer Zertifikatsausbildung pauschal um 30 Prozent zu reduzieren. Die Kassen wollen die Zertifikate aber lieber ganz abschaffen und stattdessen die Inhalte in die Ausbildung integrieren. Sie hatten die Sorge, dass sich das System mit den reduzierten Stunden etabliert. Das Ziel soll aber sein, dass die Unzufriedenheit der Therapeuten mit den Zertifikaten so sehr steigt, dass sie die Zertifikatspositionen komplett weglassen können. Das Thema Zertifikatsfortbildungen wird gerne so verkauft, dass die Kassen die Bösewichte sind. Es ist aber so, dass die Zertifikatsthematik von den Verbänden etabliert wurde. Sie haben gesagt: Wir brauchen Zertifikate für die Qualität – und für das Geld.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit wir wieder eine einheitliche Lobbyarbeit hinbekommen?

INSIDER: Insgesamt müsste die Verbändelandschaft reduzieren werden. Es reichen im Bereich Physiotherapie zwei Verbände. Einer kümmert sich schwerpunktmäßig um die Angestellten und der andere um die Selbstständigen. Was soll denn ein Verband heute verhandeln? Soll er sich um bessere Arbeitsbedingungen für die angestellten Therapeuten kümmern oder um bessere Preise für die Selbstständigen?

Vielen Dank für das Gespräch.

[Das Gespräch führte Ralf Buchner.]

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Klaus Albring
29.01.2022 14:01

Ich glaube, dass wenn der Insider wirklich gute und auch… Weiterlesen »

Thomas Koester
29.01.2022 12:51

Warum wird/werden die verschiedenen Massage/therapien immer wieder niedergemacht??

Susanne Pfister
29.01.2022 10:30

Vor nicht allzulanger Zeit gab es eine Onlinebefragung zur Physiotherapie… Weiterlesen »

Marialotta
28.01.2022 15:39

Schon spannend …was der „sog.Insider“ hier zum Besten gibt !… Weiterlesen »

Ralf Buchner
28.01.2022 18:30
Antworten an  Marialotta

Vielen Dank, dass sie ihre Zweifel an der Echtheit dieses… Weiterlesen »

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