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Medizinisch-therapeutische Aspekte der Blankoverordnung

Indikationen, Ängste, Therapiequalität und Evaluation
Das oberste Ziel der Blankoverordnung ist, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Die Therapeuten nehmen mit der Art und Weise, wie sie behandeln, direkten Einfluss darauf. Damit geht auch eine wachsende Verantwortung einher. Wir haben nachgefragt, wie Therapeuten damit umgehen.
© Fokusiert

Faktencheck: Chancen und Risiken

Chancen der Blankoverordnung für die Therapie/Behandlung:
  • Intensität der Behandlung kann von den behandelnden Therapeuten selbst gesteuert werden.
  • Therapie kann an die Belastungsfähigkeit des Patienten anpasst werden: Die Therapie kann täglich, mehrmals in der Woche oder einmal im Monat stattfinden.
  • Therapeuten entscheiden, welches der für die Diagnosegruppe möglichen Heilmittel für den Patienten am besten ist.
Risiken der Blankoverordnung für die Therapie/Behandlung:
  • Angst vor möglichen Falschbehandlungen bei unerfahrenen Therapeuten.
  • Effekte der Blankoverordnung sind nicht messbar.
  • Therapeuten setzten die Möglichkeiten der Blankoverordnung (z. B. Intensivtherapie) nicht um.

Sowohl Dr. Claudia Kemper als auch Jens Uhlhorn stehen als Praxisinhaber an der Behandlungsbank – Dr. Kemper als Physiotherapeutin und sektorale Heilpraktikerin, Herr Uhlhorn als Physiotherapeut mit GKV-Zulassung. Wir haben mit den beiden über die therapeutischen Aspekte der Blankoverordnung gesprochen.

Punkt 1: Indikationen

Für welche Indikationen es zukünftig Blankoverordnungen geben soll, muss erst noch in den Verträgen zur „Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung“ festgelegt werden. Dr. Kemper ist dafür, sich zum Start auf zwei bis drei größere Indikationsgebiete zu konzentrieren. „Wir dürfen nicht zu kleinteilig werden, da es dann mit der Evaluation schwierig wird“, ergänzt sie. Am besten würden sich daher Indikationen eignen, die eine große Patientengruppe einschließen. „Für die Physiotherapie bietet sich meiner Meinung nach als aller Erstes eine Auswahl an muskuloskelettalen Erkrankungen wie z. B. Rückenschmerz oder Arthrose an.“

Jens Uhlhorn hingegen wünscht sich, dass die Blankoverordnung von Anfang an für alle Indikationen kommt. „Das bietet den Therapeuten die größtmögliche Freiheit und eine bessere Abstimmung mit den Ärzten. Es gibt ja durchaus auch diverse Mischindikationen.“ Gäbe es dann nur für einige Indikationen die Blankoverordnungen, würde das eine enorme organisatorische Herausforderung für die Praxen bedeuten.

Punkt 2: Vorbehalte und Ängste

Einige Therapeuten scheuen sich davor, mit Blankoverordnungen zu behandeln. Dr. Kemper sieht dabei primär drei Vorbehalte im Fokus. Punkt eins ist die Befürchtung, nicht gut genug qualifiziert und der Verantwortung nicht gewappnet zu sein. Auch der Aspekt Patientensicherheit spiele hier hinein. „Die Diagnose liegt zwar nicht in unserem Aufgabenbereich, aber wir haben mehr Verantwortung hinsichtlich der Länge, der Frequenz und der Wahl des Heilmittels“, so die Physiotherapeutin. Auch von berufspolitischer Seite habe sie schon Vorbehalte gehört. „Insbesondere, dass uns das Ganze auf die Füße fällt, weil zu viele denken, sie können jetzt machen, was sie wollen, und dass das die Kosten im Vergleich zur regulären Versorgung nach dem Heilmittelkatalog in die Höhe treibt.“ Der dritte und größte Vorbehalt sei aber sicherlich die wirtschaftliche Verantwortung. „Keiner weiß, was passieren wird“, so Kemper. „Meiner Meinung nach sollten wir daher einfach erst einmal schauen, was überhaupt auf uns zu kommt.“

„Die Blankoverordnung ist einfach ein unbekanntes Konglomerat aus therapeutischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Verantwortung“, findet auch Uhlhorn. „Und ich kann es auch verstehen, dass viele Praxisinhaber müde sind nach Jahrzehnten des langen Kampfes und sagen: ‚Och bitte nicht noch eine Veränderung.‘“ Andererseits seien die Chancen sehr groß, die ganzen Hindernisse zu überwinden. Dass Kollegen therapeutische Bedenken haben, das glaube er eher nicht. „Wir sind gut ausgebildet, wir haben alle ein Staatsexamen und das muss zu irgendetwas gut sein.“ Und im Endeffekt seien die Blankoverordnungen nichts anderes als eine Privatverordnung, die seit Jahren geübte Praxis ist. „Inhaltlich und fachlich-therapeutisch wird sich nichts ändern“, ergänzt Uhlhorn. „95 Prozent der aktuell gültigen Kassenrezepte würde ich de facto als Blankoverordnung werten – auch wenn natürlich die rechtlichen Rahmenbedingungen anders sind.“

Punkt 3: Qualität der Therapie

„Durch die Blankoverordnung können Therapeuten viel individueller auf Patientenprobleme eingehen“, so Dr. Kemper. „Wer nach Heilmittelkatalog therapiert, hat nur geringen Handlungsspielraum. Steht auf dem Rezept zwei Mal die Woche Krankengymnastik, kann ich nicht sagen, ich therapiere aber drei Mal.“ Bei vielen chronischen Patienten wäre es jedoch sinnvoll, auch mal einen intensiveren Therapiezyklus einzubauen. Das sei bisher nicht möglich.

Auch Jens Uhlhorn sieht die Therapeuten durch die Behandlung nach Heilmittelkatalog ausgebremst. „Das, was uns aktuell massiv behindert, ist der Heilmittelkatalog, der in Bezug auf die therapeutische Versorgung ohne Sinn und Verstand ist.“ Wenn Therapeuten endlich mal das anwenden können, was sie gelernt haben, würde sich die Qualität der Therapie massiv verbessern. Das hat auch damit zu tun, dass Therapeuten viel flexibler entscheiden können, wie intensiv die Therapie bei den einzelnen Patienten ausfallen muss. „Patienten mit Rückenschmerzen benötigen in erster Linie vielleicht primär Beratung, während beispielsweise bei Schlaganfallpatienten eine intensivere Therapie notwendig ist.“

Punkt 4: Evaluation

In den Vorgaben zu den Verträgen zur „Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung“ ist festgehalten, dass parallel zur Anwendung der Blankoverordnung eine Begleitforschung erfolgen muss. „Dafür benötigen wir klare Assessments, die die Therapeuten anwenden können und klare Indikatoren, die gemessen werden“, weiß die Gesundheitswissenschaftlerin Dr. Kemper. „Im besten Fall können wir so darstellen, welcher Versorgungsweg effektiver ist – die Blankoverordnung oder die Versorgung nach dem Heilmittelkatalog.“

Wichtig sei hier, auch sektorenübergreifend und bereichsübergreifend zu evaluieren. „Für den Bereich Physiotherapie sind beispielsweise auch Fragen von Interesse, ob die Therapie durch Blankoverordnung den Bedarf an Operationen, Schmerzmedikation oder die Anzahl an Arbeitsunfähigkeitstagen gesenkt hat“, ergänzt Dr. Kemper. „Es ist wichtig, auch ein oder zwei Jahre nach Therapie zu erfassen, ob auf dem ein oder anderen Weg mehr Effektivität zu messen ist.“ Dafür stehe Therapeuten ein ganzer Strauß an guten Assessments zur Verfügung, die auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität oder Teilhabe der Patienten ermitteln. „Therapeuten müssen ICF-bezogen befunden und evaluieren.“

Damit Therapeuten die Ergebnisse der Therapie evaluieren können, muss es laut Jens Uhlhorn eine entsprechende Strategie geben. Aus internationalen Studien wisse man sehr gut, wie Therapie wirkt und welche Vor- und Nachteile sie hat. Für den deutschen Markt erwarte er keine anderen Ergebnisse, was die Wirksamkeit angehe. „Wir haben den Vorteil, dass wir uns an diesen evaluierten und langjährig erprobten Konzepten aus dem Ausland bedienen können“, so Uhlhorn. „Das sollten wir zu gegebener Zeit auch tun.“

Diese Artikel gehören zum Schwerpunkt Blankoverordnung:

Themenschwerpunkt 4.2021: Chancen und Risiken der Blankoverordnung

Hintergrund und rechtliche Vorgaben: SGB V und Heilmittel-Richtlinie legen die Rahmenbedingungen fest

Wirtschaftliche Aspekte: Interview mit Jens Uhlhorn, Physiotherapeut und Praxisinhaber

Berufspolitische Aspekte der Blankoverordnung: Interview mit Dr. Claudia Kemper, Physiotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin

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