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„Aus Kassensicht interessiert uns, was die Therapeuten davon erwarten“

Interview mit Michael Reimann, Unternehmensbereichsleiter Heilmittel bei der AOK Niedersachsen, zum Thema Blankoverordnung
Ralf Buchner hat mit Michael Reimann, Unternehmensbereichsleiter Heilmittel bei der AOK Niedersachsen, über die anstehenden Vertragsverhandlungen zur Blankoverordnung gesprochen – über die verhärteten Fronten zwischen den Vertragsparteien, das Thema Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Zertifikatspositionen.
© Michael Reimann

Wir haben ja aktuell an verschiedenen Fronten Verhandlungen über Versorgungsverträge, bei denen sämtliche Zeiträume gerissen wurden, und bei denen man das Gefühl hat, dass die Fronten sowohl bei den Heilmittelerbringern als auch bei den Kassen verhärtet sind. Stimmen Sie mir hier zu?

REIMANN: Ja, beide Seiten haben einen monatelangen Verhandlungsmarathon hinter sich. Dann kam es zum Schiedsverfahren. Das führte auch nicht gerade dazu, dass die Stimmung sich verbesserte. Nun haben wir zum Teil einen Ausgang der Schiedsverfahren, bei dem alle noch einmal vor einer nächsten Hürde stehen, weil sie weiter verhandeln müssen. Parallel hatten wir den Termin 15. März 2021 vor Augen, bis zu dem laut § 125a eigentlich die Blankoverordnung stehen sollte. Insgeheim wissen beide Seiten, dass uns hier ein weiterer Verhandlungsmarathon droht. Das drückt natürlich zusätzlich die Stimmung.

Die Verhandlungen zu den Blankoverordnungen werden dann ja auch wieder mit den gleichen Leuten ablaufen. Also die Personen, die an anderer Stelle schon vor verhärteten Fronten stehen, müssen sich nun in den nächsten Verhandlungsmarathon begeben. Kann man das so sagen?

REIMANN: Ja, und das ist natürlich ein Problem. Hinzu kommt aus GKV-Sicht ja noch: Die Verbände verhandeln jeweils den Vertrag für ihre Berufsgruppe. Die gleichen Personen vom GKV-Spitzenverband steckten aber in den Verhandlungen und Schiedsverfahren aller fünf Leistungsbereiche. Zum Teil gibt es zudem noch immer keine Einigungen auf eine Preisliste.  Im Bereich der Physiotherapie auch nicht zur Leistungsbeschreibung. Und nun sollen die gleichen Personen gemeinsam und kreativ über neue Möglichkeiten in der Heilmittelversorgung zu reden, also die Blankoverordnung. Das ist sicherlich schwer.

Wie wäre es, wenn wir beide die Blankoverordnung verhandeln könnten? Wie würde es dann laufen?

REIMANN: Aus Kassensicht interessiert uns, was die Therapeuten davon erwarten. Welche Probleme kann man ganz konkret mit einer Blankoverordnung angehen, wie kann die Versorgung dadurch verbessert werden? Hier besteht Aufklärungsbedarf für die GKV, glaube ich. Die Kassen haben Sorge vor Mengenausweitungen. Deshalb würde ich erst einmal über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken diskutieren – zunächst ohne Verhandlungsdruck und ohne Polemik.

Chancen und Risiken? Wie könnten wir damit bei dem Beispiel Schlaganfall umgehen?

REIMANN: Beim Schlaganfall sind wir beide uns ja einig. Am Anfang möglichst intensiv und viel therapieren und dann später die Leistung auch ein Stück weit ausschleichen lassen. Wenn wir an Blankoverordnungen denken, könnte es so aussehen: In einem bestimmten Rahmen wird die Therapie am Anfang intensiver gestaltet, und später, bei einer Dauerverordnung muss geschaut werden, was wirklich noch notwendig ist. Oder man kommt irgendwann zu dem Schluss: Mehr ist nicht möglich, nun geht es nur noch um eine Erhaltung der Fähigkeiten, was mit einer sporadischen Physiotherapie funktioniert.

Würde es dann nicht reichen, sich zu überlegen, wie man mit Auffälligkeiten umgeht? Dann wären wir ja beim Thema Wirtschaftlichkeitsprüfung, wie wir es von Ärzten kennen.

REIMANN: Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei Therapeuten sind nicht unser sehnlichster Wunsch. Wenn diese Form der Wirtschaftlichkeitsprüfung aber verhandelt wird, dann müssen und werden wir es als Krankenkasse umsetzen. Es geht dabei nicht um einen Generalverdacht gegen alle Therapeuten, sondern um die fünf Prozent, die dann den Rahmen sprengen.

Bei den Ärzten ist es ja so, dass sie eine Beratung bekommen, wenn sie das erste Mal auffällig werden. Wäre das nicht auch ein Konzept für die Therapeuten?

REIMANN: Das wäre unseres Erachtens ein absolut richtiger Weg. Wir haben vor sieben Jahren angefangen, auf Regressanträge gegen Ärzte weitestgehend zu verzichten. Mithilfe von angestellten Physiotherapeuten haben wir eine intensive Arztberatung aufgebaut und sprechen im Vorfeld mit den Ärzten, sobald wir Auffälligkeiten erkennen. Das wäre mit den Therapeuten natürlich ähnlich praktizierbar im Rahmen der Blankoverordnung.

Wie können die Kassen den Therapeuten bei der Übernahme der Verantwortung helfen?

REIMANN: Da gibt es unterschiedliche Methoden. Die Auffälligkeitsprüfungen wie bei Ärzten haben wir bereits erwähnt. Man könnte auch mit einer Budgetsystematik arbeiten usw. Idealerweise wäre es aber so, dass wir einen medizinischen Vorteil für die Patienten in einem bestimmten Indikationsbereich herstellen, gleichzeitig einen Rahmen definieren, in dem die Therapeuten eine gewisse Freiheit haben und die Krankenkassen die Gewissheit, dass dieser Rahmen nicht gesprengt wird. Für alles, was darüber hinausgeht, übernehmen dann Ärzte oder auch die Therapeuten die wirtschaftliche Verantwortung.

Wie sieht es eigentlich mit den Zertifikatspositionen in der Physiotherapie aus? Darf ich eine Blankoverordnung annehmen, wenn ich die Zertifikatsposition gar nicht anbieten kann?

REIMANN: Nur zwei Drittel der Praxen können MT-Zertifikate mit uns abrechnen– im Bereich KG-ZNS sind es nicht einmal 50 Prozent. Wenn der Arzt nun eine Blankoverordnung ausstellt und der Patient geht zu einem Therapeuten, der gewisse Leistungen gar nicht anbieten kann, dann ist das natürlich ein Problem. Dann wird der Therapeut etwas machen, was er kann oder darf. Aus Qualitätsgesichtspunkten dürften ausschließlich Therapeuten an Blankoverordnungen teilnehmen, die alle diese Zertifikatspositionen anbieten können. Dies dient dem Schutz des Patienten, ist allerdings natürlich kaum umsetzbar. Besser wäre es, wenn wir von den Zertifikatspositionen kurzfristig wegkommen könnten. Denn sie machen das ganze Thema unnötig kompliziert.

Es kann nicht sein, dass ein Zertifikat wie MT, das in der Leistungserbringung ja eines der Hauptleistungen ist, nicht Bestandteil der Ausbildung ist. Das passt insbesondere nicht zu einem Thema wie Blankoverordnung. Wenn wir dann wieder den Schlaganfall hernehmen, kann ich als Kasse nicht Behandlungen wie ZNS für alle freigeben, wenn ich weiß, dass die Hälfte der Therapeuten diese Leistung nicht erbringen kann.

Wäre es eine kurzfristige Lösung, zu sagen: Bei Blankoverordnungen gibt es keine Zertifikatspositionen mehr, sondern nur noch 20, 30 oder 40 Minuten Behandlung?

REIMANN: Die Komplexität in der Verordnung von Physiotherapie muss verringert werden, dadurch hätten die Therapeuten durchaus schon mehr Freiheit. Das Wissen der Leistungserbringer muss aber ja trotzdem vorhanden sein. Über kurz oder lang müssten diese Zertifikats-Leistungen Teil der Ausbildung werden.

Die bisherigen Verhandlungen gingen ja sehr langsam vonstatten. Gibt es nicht die Möglichkeit, an ein Thema wie Blankoverordnung mit einer anderen Verhandlungsstrategie heranzugehen?

REIMANN: Ich persönlich fände es schön, wenn im Rahmen der Verhandlung modernere, agile Methoden Anwendung finden würden. Besser wäre, es eher wie ein Projekt, weniger wie eine klassische Verhandlung handhaben zu können. Dazu müssten sich die Beteiligten deutlich intensiver am Stück, und nicht nur alle zwei Wochen für einen Tag, zusammensetzen. Referenten könnten zudem Themenbereiche und Fragestellungen vorbereiten, sodass alle mit dem gleichen Wissensstand in die Verhandlungen gehen. Intensives Arbeiten heißt dann: Man macht solange weiter, bis man auch an kritischen Stellen einmal die Knoten löst. Dafür müssen sich alle mindestens zwei bis drei Tage Zeit nehmen, um das Thema ohne Verhandlungsdruck und vor allem freier zu diskutieren. Allerdings muss man auch verstehen, dass es bei dem an den Verhandlungen beteiligten Personenkreis aufgrund der vielen anderen wichtigen Aufgaben, sicherlich nicht einfach ist, sich mehrere Tage am Stück aus dem Tagesgeschäft rauszunehmen. Gerade in der aktuellen Pandemie haben beide Seiten auch viele weitere wichtige Maßnahmen vorbereitet und umgesetzt. Grundsätzlich sind dafür mehr gegenseitiges Verständnis, Vertrauen und Offenheit erforderlich.

Herr Reimann, vielen Dank für das Gespräch.

[Das Gespräch führte Ralf Buchner]

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