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Berufspolitische Aspekte der Blankoverordnung

„Der Direktzugang ist für mich das eigentliche Ziel“

Interview mit Dr. Claudia Kemper, Physiotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin
Als Physiotherapeutin mit eigener Praxis und Gesundheitswissenschaftlerin blickt Dr. Claudia Kemper mit zwei Brillen auf das Thema Blankoverordnung: aus Sicht der Praxisinhaberin sowie der Wissenschaftlerin. Schon Anfang 2019 sprach sie sich in einem Interview mit up für die Blankoverordnung aus – auch im Hinblick auf einen möglichen Direktzugang. Wir haben jetzt noch einmal mit ihr über das Thema gesprochen – zu Chancen und Risiken aus therapeutischer Sicht (mehr dazu hier), aber auch zu berufspolitischen Aspekten.
© Claudia Kemper

Faktencheck: Chancen und Risiken

Chancen der Blankoverordnung für die berufspolitische Entwicklung:
  • Therapieberufe können für Nachwuchs attraktiver werden.
  • Positive Effekte der Therapiesteuerung sind belegbar.
  • Möglicherweise ein Schritt hin zum Direktzugang.
Risiken der Blankoverordnung für die berufspolitische Entwicklung:
  • Es gelingt nicht, die Reform der Berufsgesetze an die neuen Freiräume anzupassen.
  • Die Therapeuten zeigen, dass sie mit dem Mehr an Verantwortung nicht umgehen können.
  • Rosinenpickerei einzelner Praxen kann durch die Branche nicht verhindert werden.

Dr. Kemper, wie sind Sie jetzt, zwei Jahre nach unserem Interview, dem Thema Blankoverordnung gegenüber eingestellt?

KEMPER: Da hat sich nichts geändert. Die Blankoverordnung ist für mich der Spatz in der Hand und der Direktzugang die Taube auf dem Dach. Sprich, der Direktzugang ist für mich das eigentliche Ziel. Aber da der gerade schwer zu erreichen ist, ist der Spatz in der Hand das, womit ich erst einmal zufrieden bin.

Was sollte das Ziel der Vertragsverhandlungen zur Blankoverordnung mit dem GKV-Spitzenverband sein?

KEMPER: Dass daraus Verträge hervorgehen, die für Therapeuten attraktiv und niedrigschwellig sind, was den Zugang betrifft, also eine einfache Umsetzung. Attraktiv bedeutet hier ökonomisch aber inhaltlich attraktiv.

Können bzw. müssen wir etwas aus den Verhandlungen zu den Rahmenverträgen lernen?

KEMPER: Ich kann auch nur das beurteilen, was ich über die Informationen der Verbände zu hören bekomme. Gerade beim Thema Vergütung habe ich aber den Eindruck, dass die Argumentationen sehr darauf abzielen, was wir als Berufsgruppe brauchen, um – ganz plakativ gesagt – über die Runden zu kommen. Ich glaube bei den Verhandlungen zu den Blankoverordnungen müssen wir den Spieß umdrehen und uns fragen: Was erwirtschaften wir Therapeuten dem Gesundheitssystem mit effektiver Therapie? Und dann wissenschaftlich fundierte Argumente liefern, um zu sagen: Das brauchen wir für eine effektive Therapie, die wir auch monetär in das System einbringen können.

Zudem würde ich mir wünschen, dass generell in Vertragsverhandlung viel stärker die therapeutisch wissenschaftliche Expertise mit einbezogen wird. Denn Fakt ist, dass wir die Blankoverordnung evaluieren müssen. Und nur wenn die Evaluation erfolgreich ist, wird die Blankoverordnung verstetigt. Zudem zeigen wir so auch, dass wir mit der Verantwortung umgehen können.

Warum ist das Thema Blankoverordnung berufspolitisch so relevant? Welche Chancen sehen Sie?

KEMPER: Leider sehen wir, dass immer mehr junge Kollegen dem Beruf frustriert den Rücken zudrehen. Das  können wir uns aber sowohl aus therapeutischer als auch aus gesellschaftlicher Sicht nicht leisten. Wir müssen also sehen, dass wir den Beruf attraktiver machen. Die derzeitigen Rahmenbedingungen tragen dazu aber nicht bei. Vielmehr noch, wir schöpfen nicht das volle Potenzial der Therapie aus. Wie groß dieses ist, ist in vielen Studien belegt. Doch die Rahmenbedingungen fesseln uns und verhindern, dass wir evidenzbasiert, sprich effektiv und qualitätsgesichert, arbeiten können. Die Blankoverordnung kann ein Schritt sein, um das zu verbessern.

Und welche Risiken können mit der Blankoverordnung verbunden sein?

KEMPER: Das größte Risiko ist, dass Verträge unattraktiv sind, sie hohe Hürden setzen und die Evaluierung methodisch schlecht ist. Sprich, wenn das Ganze von A bis Z schlecht gemacht ist und dementsprechend auch die Ergebnisse ausfallen. Denn wenn wir zeigen, dass wir mit diesem kleinen Stück mehr an Verantwortung nicht klarkommen, dann wirft uns das um Jahre zurück.

Müssen die Ausbildungsprüfungsverordnungen an die neuen Freiräume der Therapeuten angepasst werden?

KEMPER: Ja, die hätten schon vor zehn Jahren angepasst werden müssen. Es wäre gut, wenn im Hinblick auf die Blankoverordnung zum Beispiel Selbstmanagement und kommunikative Elemente mehr Raum bekämen, auch gerade was die Selbstmotivation der Patienten betrifft. Andere Bereiche könnten dafür meiner Meinung nach gekürzt werden, bei den Physiotherapeuten etwa der Bereich Massagen, Hydro- oder Elektrotherapie. Unsere umfangreiche theoretisch-praktische Ausbildung an den Fachschulen ließe für solche Anpassungen genügend Raum. Schön wäre auch, wenn insbesondere aus Sicht des Direktzugangs das Screening mit drin wäre. Denn ich glaube nicht, dass wenn das Thema Ausbildungs- und Prüfungsverordnung einmal verabschiedet ist, es so schnell wieder angefasst wird.

Wir danken Frau Dr. Kemper für das Gespräch!

[Das Gespräch führte Kea Antes]

 

Blankoverordnung: Ein Schritt auf dem Weg zum Direktzugang?

Die Meinungen gehen auseinander

Auf die Frage, ob die Blankoverordnung ein Schritt auf dem Weg zum Direktzugang sei, herrschte bei der Podiumsdiskussion noch Einigkeit: ja. Bei der Frage, ob der Direktzugang das Ziel sei, gingen die Meinungen hingegen auseinander. Während die Logopädin und Zweite Vorsitzende von LOGO Deutschland, Christine Sautter-Müller, auch hier mit einem klaren Ja antwortete, kam von Dr. Roy Kühne zeitgleich ein deutliches Nein.

Die Blankoverordnung ist ein Schritt, Direktzugang könnte ein anderer Schritt sein. Aber es gibt vielleicht auch, wie in anderen Staaten, Therapeuten, die gar keinen Direktzugang wollen. Die sagen, dass sie mit der Blankoverordnung super leben“, so Kühne. Man dürfe nicht nur an heute denken. Vielleicht gibt es in Zukunft Situationen, in denen etwa zu einem chipgesteuerten Operationsverfahren nur eine ganz spezielle Nachbehandlung passt und die entsprechenden Therapeuten so spezialisiert sein müssen, dass eine Blankoverordnung nicht infrage kommt. Aktuell ist es jedoch so vorgesehen, dass alle Therapeuten mit GKV-Zulassung die Blankoverordnung abarbeiten müssen. Ärzte sind jedoch laut Heilmittel-Richtlinie nicht verpflichtet, eine Blankoverordnung auszustellen. Sie können sich auch dagegen entscheiden, wenn ihrer Meinung nach aus ganz bestimmten Gründen eine bestimmte Therapie erfolgen soll.

Der Physiotherapeut Jens Uhlhorn findet hingegen, dies sei der falsche Zeitpunkt für eine Diskussion über den Direktzugang, „denn wir haben nicht einmal die Blankoverordnung. Lasst uns die Blankoverordnung ausprobieren, lasst uns schauen, wo wir damit landen, und sie dann ggf. fortentwickeln oder sagen, das war völliger Müll, wir müssen etwas ganz anderes machen.“ Er ist dafür, lieber einen Schritt nach dem anderen machen. „Wir wissen, wie kompliziert die Verhandlungen sind und wie lange die Wege sind. Je mehr wir jetzt im Voraus planen, desto mehr Probleme werden wir in den Verhandlungen bekommen.“

Diese Artikel gehören zum Schwerpunkt Blankoverordnung:

Themenschwerpunkt 4.2021: Chancen und Risiken der Blankoverordnung

Hintergrund und rechtliche Vorgaben: SGB V und Heilmittel-Richtlinie legen die Rahmenbedingungen fest

Medizinisch-therapeutische Aspekte der Blankoverordnung: Indikationen, Ängste, Therapiequalität und Evaluation

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„Aus Kassensicht interessiert uns, was die Therapeuten davon erwarten“ – Interview mit Michael Reimann, Unternehmensbereichsleiter Heilmittel bei der AOK Niedersachsen

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