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Videobehandlungen bieten Freiräume

Dresdner Logopädin nutzt neue Behandlungsform zu 100 Prozent
Seit Mitte März sind Videobehandlungen im Heilmittelbereich erlaubt. Doch immer noch bleiben viele Unsicherheiten unter den Praxisinhabern. Nicht so bei der Dresdner Logopädin Ute Wagner. Als die Krankenkassen am 16. März die Therapie per Video gestatteten, startete sie am darauffolgenden Tag. Mit Erfolg: Ihre Praxis ist trotz der Corona-Krise weiterhin bis zu 100 Prozent ausgelastet. Und sie hofft sehr, dass die neue Behandlungsform auch nach Corona erhalten bleibt.
© iStock: shapecharge

„Videobehandlungen bieten Freiräume“, schwärmt die 53-jährige Praxisinhaberin, „ich bin so dankbar über die vielen Chancen, die uns durch die Corona-Krise geboten werden, auch wenn es natürlich traurig ist, dass Corona die Menschen so schwer krank macht.“ Mit dieser Ansicht steht sie unter ihren Kollegen ziemlich alleine da, die sich aktuell eher über die Risiken als die Chancen beklagen.

Das zeigte auch kürzlich eine Umfrage zur Lage im Heilmittelbereich „Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie“, die vier Berufsverbände an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schickten: Danach hatten bis Anfang April nur die Hälfte der über 5.000 Befragten Videotherapien angeboten, und lediglich elf Prozent der Therapien konnten per Video erfolgen.

Praxisschließung kein Zeichen für Systemrelevanz

Ein Umstand, den Ute Wagner nicht begreifen kann. „Als Therapeuten genießen wir einen besonderen Schutz in unserer Gesellschaft. Wer zum Therapeuten geht, erwartet Hilfe, aber was tun wir? Wir schreien nach Hilfe!“ Es gebe Berufsgruppen, die weit betroffener seien als die ihre und die in der derzeitigen Situation nur abwarten und nichts tun könnten. Völlig unpassend fand sie daher auch das Plakat eines Berufsverbandes mit dem Slogan „Heilmittel – ohne Rettungsschirm keine Therapie!“ Ihre Reaktion: „Wie können wir systemrelevant sein, wenn wir unsere Praxen schließen?“ Zuweilen schämt sie sich sogar über das viele Gejammer ihrer Kollegen – selbst beim kürzlich aufgespannten Rettungsschirm für Heilmittelpraxen. „Jetzt lamentieren sie, dass Zahnärzte mehr bekommen sollen als wir Logopäden!“

Faktor Zeit spielt eine große Rolle

Die Praxisinhaberin handelte und stellte ihre Termine kurzerhand auf online um. Therapien in der Praxis werden nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt. „Wir bieten besondere Therapien an, die Patienten nicht überall in Sachsen wahrnehmen können“, sagt sie. So kämen viele ihrer Patienten von weit her, und einige hätten schon vor Beginn der Corona-Krise oft über die weite Anreise gestöhnt. Der Faktor Zeit spiele eine große Rolle, und schon seit Jahren habe sie über Lösungen nachgedacht – unter anderem mit der Hilfe eines externen Business-Mentors. So habe sie schon 2004 mit der Digitalisierung ihrer Praxis begonnen – „seit 2018 ist meine Praxis völlig papierlos“, sagt sie stolz. Ihre Affinität zu technischen Fortschritten haben ihr die Umstellung auf Videobehandlungen sicherlich erleichtert, ist sie überzeugt.

Technische Voraussetzungen vorhanden

Als Mitte März die Schulen geschlossen wurden, gab es unter ihren Patienten eine große Unruhe. Viele riefen an und erkundigten sich, wie es weitergehe. „Als wir ihnen mitteilten, dass die Krankenkassen Videobehandlungen erlaubten, herrschte eine große Erleichterung“, erinnert sich die Praxisinhaberin. Und inzwischen hat sie den Eindruck, dass die Patienten die virtuelle Behandlung mehr und mehr akzeptieren.

Die technischen Voraussetzungen mit einem Computer mit Kamera und Mikrofon waren schon vor der Corona-Krise in jedem Behandlungsraum vorhanden, und so konnte sie schon am nächsten Tag starten – in allen Behandlungsfeldern mit Ausnahme der Schlucktherapie. Die Therapeutin sieht kaum Grenzen der Behandlung per Video, es sei denn, sie liegen im Patienten selbst begründet. Sie schildert den Fall eines sechsjährigen gehörlosen Mädchens, dessen Verhalten eine Videobehandlung unmöglich machte: Sie fand das Ganze nur komisch und kasperte nur vor der Kamera herum.

Video ermöglicht einen Blick ins Alltagsleben

Ansonsten schätzt sie es, dass sie durch die Videoschaltung das Alltagsleben ihrer Patienten beobachten und miterleben darf. „Eine solche Situation kriegen wir in keinem Therapieraum hin“, sagt sie begeistert und schildert den Fall eines zweijährigen Mädchens, das nach einer Meningitis ertaubte. „Ich erlebte sie am Mittagstisch mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder. Sie zeigte alle wichtigen Elemente der Kommunikation, hielt Blickkontakt mit ihnen und machte sich mit Gesten und Worten verständlich – völlig ungezwungen.“ Nicht zuletzt sind die Bezugspersonen, seien es die Eltern, die Großeltern, die Geschwister oder die Lebenspartner, entscheidend für den Therapieerfolg. „Ich liebe es, wenn Verwandte mit zur Behandlung kommen“, schwärmt sie, „dann kann ich sie in die Therapie mit einspannen.“

Eltern sind die kompetentesten Fachleute

„Die Eltern sind die kompetentesten Fachleute für ihre Kinder“, erklärt die Logopädin, und sie muss es wissen: Ihre inzwischen 30-jährige Tochter kam gehörlos zur Welt und hatte keine guten Prognosen. Doch Ute Wagner, die damals noch in der Steuerberatung arbeitete, wollte dies nicht hinnehmen und besuchte einige Jahre einen Elternintensivkurs für Eltern hörgeschädigter Kinder nach auditiv-verbaler Therapie (AVT) bei Susanna Schmid Giovannini in der Schweiz – mit Erfolg. „Meine Tochter ist letztlich auch der Grund, warum ich mich für die Logopädie entschieden habe.“

Videobehandlung gut vorbereiten

Eine Behandlung per Video laufe grundsätzlich wie eine Offline-Therapie ab. Der einzige Unterschied liegt für Ute Wagner darin, die 45 Minuten besser vorzubereiten und alle erforderlichen Hilfsmittel schon bereitzulegen. „Es wäre nicht gut, wenn ich mitten in der Sitzung vor der Kamera einfach aufstehe und meinen Patienten alleine lasse.“ Respekt vor jedem einzelnen Patienten klingt aus ihren Worten – getreu ihrem Motto, dass sie auf ihrer Facebook-Seite postet: „Unser Ziel ist es, Patienten von uns als Therapeuten unabhängig zu machen und sie auf dem Weg hin zu mehr Lebensqualität zu unterstützen. Das ist unser Warum, unsere Motivation, der Grund jeden Tag weiterzumachen.“

Mehr Flexibilität bei Behandlungsformen auch nach Corona

Die Vorteile der Videobehandlungen haben Ute Wagner überzeugt. „Da ist einerseits der Gewinn an Lebenszeit und andererseits die große Chance, meinen Patienten in ihrem Lebensalltag zu erleben.“ Daher kann sie ihren Kollegen nur empfehlen, sich auf die neue Behandlungsform einzulassen und die Freiräume, die Videobehandlungen schaffen, selbst zu nutzen. „Ich träume davon, dass wir die Therapie per Video auch nach der Corona-Krise zu 80 Prozent nutzen könnten, vielleicht schaffen wir auch nur 50 Prozent – das wäre auch schon gut. Es wäre schön, wenn sich die Krankenkassen bei den Behandlungsformen – ob on- oder offline – flexibel zeigen würden.“

Außerdem ist sie eine Verfechterin von Konzeptlösungen, das heißt, den Zeitraum bestimmter Behandlungsfelder maximal zu begrenzen. „Wenn Kinder beispielsweise Schwierigkeiten mit den Lauten K und T haben, sollte diese Aussprachestörung erfolgreich in etwa 15 Stunden behandelt werden können.“ Denn gerade ihre jüngeren Patienten würden sicherlich lieber Fußball spielen als bei der Logopädin zu sitzen…

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