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Behandeln lassen - Themenschwerpunkt im Magazin 10 2019

„Der Direktzugang ist eine Möglichkeit, um bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen“

Interview mit Maria Klein-Schmeink, MdB und gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Maria Klein-Schmeink ist seit 2009 Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Gesundheit und Sprecherin für Gesundheitspolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. In dieser Funktion kümmert sie sich vor allem um Grundsatz- und Finanzierungsfragen, aber auch um Fragen der Versorgung, gerade im Bereich der Gesundheitsberufe.
© Klein-Schmeink

Frau Klein-Schmeink, 2017 haben Sie in Ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Heil- und Hilfsmittelgesetz gesagt, ein beschränkter Zugang zur Blankoverordnung würde Ihnen nicht reichen. Man müsse das regelhaft ins Gesetzbuch übernehmen. Waren Sie damit die Prophetin für das, was nun mit dem TSVG umgesetzt wurde?

KLEIN-SCHMEINK: Ich finde es sehr schade, dass, wenn man schon so lange braucht, um das Themenfeld überhaupt anzupacken, man dann immer noch so halbherzig unterwegs ist und nicht wirklich das macht, was für die Profession und die Weiterentwicklung der Versorgung zwingend ist: Also die Berufsgruppen ordentlich aufzustellen und ihnen einen wirklich gleichberechtigten Part in der Gesundheitsversorgung zuzugestehen.

Im internationalen Vergleich sehen wir da ein ganz anderes Zusammenwirken der Berufsgruppen und genau dahin müssen wir kommen. Es kann nicht sein, dass wir alles total arztlastig aufstellen. Wir müssen die Kompetenzen, die in den jeweiligen Fachberufen da sind, auch regelhaft und auf Augenhöhe in die Versorgung einbeziehen.

Das ist ja schon ein Paradigmenwechsel, weg vom arztzentrierten hin zu einem patientenzentrierten Gesundheitswesen, bei dem die Patienten entscheiden, von wem sie betreut werden wollen.

KLEIN-SCHMEINK: Es geht nicht nur darum, dass die Patienten entscheiden. Es gibt viele Situationen, in denen Patienten einen sehr komplexen Bedarf haben. Denken wir zum Beispiel an hochbetagte Menschen mit vielfältigen Erkrankungen oder an chronisch Erkrankte oder Menschen mit Behinderungen. Da geht es oft darum, nicht nur eine Behandlung im ärztlichen Sinn zu erhalten, sondern es gibt einen komplexen Unterstützung- und Behandlungsbedarf.

Aber heute führt mich der Weg dahin immer durch das Wartezimmer eines Arztes…

KLEIN-SCHMEINK: Genau, und dieser Arzt hat dann häufig gar nicht die Kenntnis darüber, wie das therapeutische Potenzial einzusetzen ist. Dann obliegt es dem einzelnen Patienten, alles irgendwie zu organisieren. Zugangsschwierigkeiten und Verschreibungsnotwendigkeiten erschweren das noch zusätzlich.

In Ihrer Rede zum TSVG aus dem März plädieren Sie für den Direktzugang für Heilmittelerbringer.

KLEIN-SCHMEINK: Wir werden in Zukunft auf der einen Seite einen immensen Fachkräftemangel haben, während auf der anderen Seite die Zahl derer, die die Leistungen brauchen, massiv ansteigen wird. Da können wir es uns überhaupt nicht leisten, Berufsgruppen nicht mit ihrem vollen Potenzial einzubinden. Wir müssen schauen, was die jeweiligen Professionen in die Behandlungskontexte einbringen können. Und das müssen sie dann auch auf Augenhöhe mit der jeweiligen Kompetenz tun dürfen.

Sind die Therapeuten denn inhaltlich bereits auf Augenhöhe oder müssen wir noch am Berufsbild arbeiten?

KLEIN-SCHMEINK: Ich glaube, es gibt hier zwei Komponenten. Ich kenne keine andere Berufsgruppe, die einen so hohen Fortbildungslevel hat wie die therapeutischen Berufe. Deshalb gibt es für mich auch kein Fragezeichen bei der Kompetenz.

Weiterentwicklungsbedarf gibt es unter Umständen bei der Einordnung in den medizinischen Kontext, etwa bei der Ausbildungsbreite, bei der Diagnosestellung und der Abgrenzung und Zusammenarbeit im Kontext mit anderen Professionen. Darum halte ich auch eine Entwicklung hin zur Akademisierung dieser Berufe für notwendig.

Es muss geschaut werden, welche Kompetenzen brauche ich, welche Beschreibungen und Kriterien muss ich für den Direktzugang erfüllen und welche Evidenz ist daraus herzuleiten. Das sollte in sehr fundierten Modellvorhaben jetzt angegangen werden. Leider hat Jens Spahn den gesetzlichen Rahmen für Modellvorhaben für den Direktzugang gestrichen. Deshalb ist es das nächste Vorhaben, das ich vorantreiben will, ambitionierte Modellvorhaben gesetzlich wieder möglich zu machen. Das werde ich nach der Sommerpause angehen.

Um nochmal auf die Ausbildung zurückzukommen: Plädieren Sie für eine Akademisierung in Teilen oder für eine Vollakademisierung? Wie stellen Sie sich das vor?

KLEIN-SCHMEINK: Ich glaube, eine Teilakademisierung macht keinen Sinn. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass man nochmal Untergruppen bildet. Dazu sind zum einen die Berufsgruppen zu klein und zum anderen ist der Stand der Ausbildung bereits jetzt so, wie man es auch mit einer akademischen Ausbildung erreichen würde – mit Ausnahme vielleicht einiger diagnostischer Inhalte.

Was fehlt, ist die Formalisierung, die eine akademische Ausbildung mit sich bringt, und vor allem die ganze wissenschaftliche Seite. Es fehlt die Forschungsseite, die den doch wesentlichen Beitrag von therapeutischen Berufen für das Versorgungsgeschehen dann auch wissenschaftlich herleitet.

Was würden Sie einem Praxisinhaber sagen, der sich durch eine Vollakademisierung vielleicht abgehängt fühlen könnte? Zum Beispiel jemand, der gerade 60 geworden ist und sich für die verbleibenden Jahre bis zur Rente nicht mehr nachakademisieren möchte.

KLEIN-SCHMEINK: Natürlich müssen wir das breite Wissen, das Erfahrungswissen von Therapeuten, die schon lange im Beruf sind, anerkennen und tragfähig erhalten. Dazu sind Übergangsregelungen nötig. Wenn dann jemand den Direktzugang anbieten will, sollten wir eine Nachqualifizierung möglich machen.

Also sagen Sie, wer Direktzugang will, muss akademisiert sein?

KLEIN-SCHMEINK: Für den Direktzugang werden wir Voraussetzungen festlegen müssen, weil damit ja auch eine eigenständige Diagnosestellung und Planung verbunden wäre. Wir müssten uns anschauen, für welche Berufsgruppen das gilt, wie das Zusammenspiel mit der ärztlichen Leistung geht, und so weiter.

Aber das ärztliche Delegationsprinzip bliebe nebenbei weiter bestehen?

KLEIN-SCHMEINK: Für welche Bereiche gilt der Direktzugang gilt und wo ich voraussetze, dass es eine medizinische Abklärung gegeben hat, muss in Modellvorhaben weiter spezifiziert werden. Ich denke, da können wir auch aus dem Ausland lernen und bei den Verbänden gibt es sicher auch recht klare Vorstellungen dazu.

Ist der Direktzugang auch eine Lösung, um Prüfpflichten durch Therapeuten, übermäßige Bürokratie und Retaxation zu vermeiden?

KLEIN-SCHMEINK: Das sind eigentlich zwei verschiedene Sachverhalte, die aber doch an einer bestimmten Stelle zusammenwirken. Grundsätzlich ermöglicht der Direktzugang aus Patientensicht eine direkte, angemessene Versorgung, ohne über ein weiteres Dreieck zu gehen und dort weitere Verzögerungen, etwa durch Wartezeiten auf einen Termin, zu haben. Deshalb ist der Direktzugang eine Möglichkeit, um bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen. Und die Bedingungen dafür müssen wir klären.

Das Zweite ist, dass über den Umweg und die Delegation weitere bürokratische Aufwände entstehen – und auch Kosten. Wo es sinnvoll und möglich ist, sollte man das natürlich vermeiden. Die Frage der Retaxation geht nochmal weiter. Ich muss sagen, es ist ein Unding, wenn ausgerechnet die Letzten in der Versorgungskette diejenigen sind, die in Regress genommen werden, obwohl sie gar nicht die Verursacher eines Fehlers sind. Und es sind Aufwände, die Personalkapazitäten binden, die eigentlich für die Versorgung da sein sollten.

Nun hat man versucht, dieses Problem über die Praxissoftware zu lösen. Doch bei mir kommt an: Es ist nicht gelöst. Insofern muss an dieser Stelle nochmal nachgearbeitet werden – unabhängig davon, ob wir nun den Direktzugang bekommen.

Warum agiert der Gesetzgeber hier so uneinheitlich? Für Apotheker, die auch Absetzungen haben, aber längst nicht in dem Ausmaß wie Heilmittelerbringer, gibt es im SGB V eine Regel, dass im Rahmenvertrag festzulegen ist, in welchen Fällen bei einer Beanstandung der Abrechnung durch Krankenkassen, insbesondere bei Formfehlern, eine Retaxation vollständig oder teilweise unterbleibt. Hier wird das Thema also explizit im Gesetzestext angesprochen. Das würden sich Heilmittelverbände doch sicher auch wünschen, damit sie in den Rahmenverträgen solche Regelungen auch umsetzen können.

KLEIN-SCHMEINK: Das hat mich auch gewundert. Denn im Dialogprozess haben die Heilmittelerbringer dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Es wurde aber immer wieder nur auf die Softwarelösungen verwiesen. Bei meinen Vorortbesuchen habe ich sehr oft gehört, dass es dadurch noch komplizierter geworden ist. Die Arztpraxen antworten nun: ‚Es ist doch alles schon in der Software. Jetzt kann ich es gar nicht mehr ändern.‘ Da muss es einfach vernünftige Regelungen geben. Und da ja sowieso jetzt über die Rahmenverträge verhandelt wird, sollte das da unbedingt mit rein.

Die Krankenkassen werden sagen, es ist im Gesetz nicht vorgesehen, also machen wir dazu nichts.

KLEIN-SCHMEINK: Ich sage an dieser Stelle immer, wir haben gerade fünf verschiedene Gesetze in der Mache. Da wird sich ja wohl ein Platz finden lassen, wo man eine solche Regelung unterbringen kann.

Also Sie plädieren dafür, dass die Retaxation nochmal explizit im Sozialgesetzbuch V verankert wird?

KLEIN-SCHMEINK: Ja, zusätzlich zu den Modellvorhaben für den Direktzugang.

Damit kommen wir auch schon zum Ende unseres Gesprächs. Gibt es noch irgendeine zentrale Botschaft, die Sie allen Heilmittelerbringern zusammenfassend sagen möchten? Was ist das Wichtigste, was Therapeuten jetzt tun sollten?

KLEIN-SCHMEINK: Ich glaube, es ist wichtig, dass die Heilmittelerbringer zusammenstehen, das Gemeinsame betonen und nicht den Unterschied. Denn nur so wird es gelingen, den Stellenwert dieser Berufsgruppen für die Versorgung auch in der Politik zu verankern. Ich glaube, in der Bevölkerung ist – gerade, wenn man auf die Leistungen angewiesen ist – sehr klar, wie bedeutsam die Beiträge sind. Aber in der politischen Diskussion werden diese Berufe eher am Rande betrachtet.

Man sieht das zum Beispiel daran, wie überfällig die Schulgeldfrage ist. Welchen anderen Beruf gibt es noch, wo man tatsächlich noch Schulgeld für eine Ausbildung zahlen muss, im Anschluss noch immense Fortbildungsverpflichtungen kommen und man am Ende auch noch wenig verdient? Das passt insgesamt nicht zusammen. Da müssen wir dem Stellenwert, der Verantwortung und der Kompetenz dringend gerecht werden. Sonst werden wir diesen Versorgungsbereich in Zukunft gar nicht absichern können.

Frau Klein-Schmeink, vielen Dank für dieses Gespräch.

[Das Gespräch mit Frau Klein-Schmeink führte Ralf Buchner]

 

Hier finden Sie das Video des Interviews mit Frau Klein-Schmeink.

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