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„Jetzt nach zehn Jahren merken viele eigentlich erst, dass die Akademisierung eine Bereicherung ist“ – Was kann Deutschland bezüglich Vollakademisierung und Direktzugang von der Schweiz lernen?

In der Schweiz gibt es die Vollakademisierung der Physiotherapie und auch den Direktzugang (Direct Access). In Deutschland ist die Lage bekanntlich noch etwas anders. Auf dem Weltkongress der Physiotherapie 2019 in Genf haben wir mit Prof. Dr. Christoff Zalpour, Professor für Physiotherapie an der Hochschule Osnabrück und Miriam Stauffer, Vizepräsidentin des Schweizer Physiotherapieverbands Physioswiss, über Direktzugang und Akademisierung in den beiden Ländern gesprochen.
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Herr Zalpour, wie ist denn der Ausbildungsstand in Deutschland im Vergleich zur Schweiz? Sind wir da auf einem guten Weg?

ZALPOUR: Meiner Meinung nach haben wir nach wie vor ein großes Problem, dass wir keine Vollakademisierung haben, dass die Zulassung in den Beruf eben nur aus der Berufsfachschule heraus erfolgt. Es gibt natürlich verschiedene akademische Programme, wie duale Studiengänge, die dieses System ein wenig aufreißen und Brücken bilden, aber das ist keine durchgehende, politisch gewollte Vollakademisierung. Die Schweizer hingegen haben einmal den Hebel umgelegt und nun eine Vollakademisierung erreicht.

Frau Stauffer, Sie haben erlebt, wie der Direct Access in der Schweiz eingeführt worden ist. Wie sieht dieser aus?

STAUFFER: Es kommt darauf an, was man unter dem Direct Access versteht. Wir in der Schweiz verstehen darunter, dass der Patient, wenn er will, direkt, ohne ärztliche Verordnung zum Physiotherapeuten gehen kann. Das große Aber ist, dass der Patient diesen Besuch selbst bezahlen muss. Damit sind wir an der gleichen Stelle, wie ganz viele andere Länder auch.

Wie war es, als das System umgestaltet wurde? Zeitgleich wurde ja auch die Vollakademisierung in der Schweiz eingeführt.

STAUFFER: Ja, seit 2006 findet die Grundausbildung an den Fachhochschulen statt und schließt mit einem Bachelor of Science ab. Und was wir jetzt in den ganzen Diskussionen, die wir hatten und auch mit anderen Ländern festgestellt haben, ist, dass die Vollakademisierung ein Motor ist, um auch politische Anliegen vorantreiben zu können. Die Akademisierung hat diesbezüglich sicher geholfen, weil dadurch ein Level der Autonomie und Profession geschaffen wurde.

Herr Zalpour, sehen Sie das auch so, dass Direktzugang und Vollakademisierung eng miteinander verbunden sind?

ZALPOUR: Meiner Meinung nach ja. Und das ist eben auch etwas, was wir versucht haben miteinander zu koppeln in unseren Bachelor- und Masterprogrammen. Darin bilden wir für den Direct Access aus. Wir machen Differenzialdiagnosen, Screenings und all diese Dinge. Meiner Meinung nach wäre es sehr natürlich gewesen, das miteinander zu verbinden und nicht über den sektoralen Heilpraktiker.

Wenn wir in Deutschland jetzt sagen würden: Ab morgen gilt hier die Vollakademisierung, würde es hier einen riesen Aufschrei geben. Wie war das in der Schweiz?

STAUFFER: Natürlich genauso. Zu Beginn der Akademisierung gab es wirklich die Angst, dass es dann nur noch Schreibtischtäter gibt und das, was unseren Beruf ausmacht, verloren geht – also diese handwerkliche Arbeit, der Kontakt zu den Patienten. Die Befürchtung hat sich auch noch eine gewisse Zeit gehalten. Jetzt nach zehn Jahren merken viele eigentlich erst, dass die Akademisierung eine Bereicherung ist. Es wurde niemandem etwas weggenommen, sondern es findet jetzt ein Austausch statt und das ist etwas, was sehr hilfreich ist.

Und wenn Sie in der Schweiz jetzt eine Umfrage machen würden, würden die Kollegen dann sagen, die Vollakademisierung war eine gute Idee?

STAUFFER: Heute? Ja, definitiv. Da bin ich mir ganz sicher. Aber der Prozess geht jetzt seit zehn Jahren. Solange braucht es eben auch. Das eine war wirklich der Verlust der Identität und auch der Wertschätzung für die Arbeit, die die Therapeuten vorher ausgeführt haben. Ich habe oft gehört: War das, was wir bisher gemacht haben, denn nicht gute Physiotherapie? Ich glaube, diese Diskussion darüber hat sich mittlerweile ein bisschen gelegt.

Herr Zalpour, wie hängen Akademisierung, Autonomie der Berufsgruppe und Direct Access zusammen?

ZALPOUR: Wir reden ja über Professionalisierung im Zusammenhang mit der Akademisierung. Professionalisierung ist ein Begriff, der in erster Linie nicht etwas mit professionellem Arbeiten zu tun hat, sondern es ist eher ein soziologischer Begriff. Zu Profession, also rein soziologisch, gehört auch immer Autonomie – und auch Expertenwissen. Deswegen ist es eben auch unfassbar, das Expertenwissen aus der Physiotherapie in andere Disziplinen diffundieren zu lassen. Also das, was man an Expertenschaft hat, das sollte man auch möglichst behalten.

Der Ruf nach Autonomie ergibt sich dann aus der Akademisierung. Das ist schon immer so gewesen. Erst kommt die Akademisierung, dann mehr Autonomie – das spiegelt sich dann wiederum in den Berufsgesetzen wider und ändert schließlich das Gesundheitssystem.

Wann kriegen wir denn den Direktzugang in Deutschland?

ZALPOUR: Wir haben ihn ja schon, weil es den sektoralen Heilpraktiker gibt. Also das Recht zur autonomen Berufsausübung gibt es prinzipiell erstmal in Deutschland. Es gibt aber keine Bezahlung aus dem öffentlichen Gesundheitssystem.

Und wann gibt es die Vollakademisierung in Deutschland?

ZALPOUR: Ja, das würde ich auch gerne mal wissen. Hoffentlich bevor ich in Pension gehe.

Herr Prof. Zalpour, Frau Stauffer, vielen Dank.

Zur up-Umfrage zum Thema Direktzugang geht es hier.

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