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„Man möchte uns nur bei Laune halten“ – Interview mit Dr. Claudia Kemper zur Einführung der Blankoverordnung

Dr. Claudia Kemper ist Physiotherapeutin und promovierte Gesundheitswissenschaftlerin. Sie arbeitet in der Praxis ebenso wie in der Lehre an Hochschulen und auch an einer Fachschule für Physiotherapie. An der Universität Bremen hat sie acht Jahre lang unter anderem am Heil- und Hilfsmittelreport der BARMER GEK mitgearbeitet.
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Frau Dr. Kemper, das neue Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) führt „Heilmittel mit erweiterter Versorgungsverantwortung“ – also die Blankoverordnung – als Regelversorgung für bestimmte Diagnosen ein. Ist das eine gute Idee?

KEMPER: Grundsätzlich ja. Die Blankoverordnung ist absolut eine gute Idee – sowohl aus meiner Sicht als Physiotherapeutin als auch als Wissenschaftlerin. Als Therapeutin arbeite ich auch selbst noch in der ambulanten Versorgung. Die Einführung der Blankoverordnung spiegelt das wider, was uns ohnehin bereits in der Praxis begegnet. Wir erhalten primär Verordnungen mit so allgemeinen Diagnosen, dass es nötig ist, mit mehr Verantwortung bezüglich Anamnese und der Wahl unserer Mittel heranzugehen. Hier jetzt auch vom Gesetzgeber mehr Freiheit zu bekommen, ist absolut sinnvoll.

Aus wissenschaftlicher Sicht gilt das Gleiche, denn der Gesetzgeber erwartet von uns Therapeuten qualitätsgesichert und evidenzbasiert vorzugehen. Wenn ich das ernstnehme, muss ich den Therapeuten auch mehr Verantwortung übertragen.

Im Gesetz wird festgelegt, dass innerhalb von vier Jahren eine Evaluation der mit der Blankoverordnung verbundenen Auswirkungen auf das Versorgungsgeschehen durchgeführt werden soll. Und das Bundesministerium für Gesundheit soll jedes Jahr über die Ergebnisse informiert werden. Kann das klappen?

KEMPER: Ja natürlich, Evaluation kann und muss funktionieren. Jede gesundheitspolitische Maßnahme soll und muss nach ihrer Einführung evaluiert werden. Diese Evaluation muss von Beginn an mit eingeplant sein. Nicht so, wie etwa bei Einführung der Praxisgebühr vor einigen Jahren, als erst Jahre später verschiedene Institute damit beauftragt wurden. Das ist natürlich Käse. Denn wie kann ich eine Entwicklung evaluieren, wenn ich den Status quo nicht erhoben habe. Evaluation von Anfang an mit guter wissenschaftlicher Begleitung – dann kann es funktionieren, aber auch nur dann.

Es stellt sich aber noch eine ganz andere Frage: Wollen wir wirklich den jetzigen Zustand als guten Standard verkaufen und dann schauen, wie es mit der Blankoverordnung besser oder schlechter wird? Ein Vergleich bedarf immer eines Maßstabs. Wenn wir das, was wir jetzt haben, als Maßstab ansehen, dann würden wir lediglich Veränderungen zum Status quo messen können. Man muss sich aber angesichts des Fachkräftemangels, der demografischen Entwicklung, usw. einmal viel grundsätzlicher überlegen: Was wollen wir mit Heilmittelversorgung überhaupt erreichen? Was ist bedarfsgerechte Versorgung? Welche Ziele müssen wir danach festlegen – die wir dann auch messbar gestalten mit der Blankoverordnung?

Man könnte zum Beispiel anhand von Daten aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich ausrechnen, wie viel Physiotherapie benötig wird, um bedarfsgerecht – gemäß evidenzbasierter Kriterien – zu behandeln. Und dann schauen, ob es mit der Blankoverordnung funktioniert. Aber Gedanken in diese Richtung fehlen momentan in der Diskussion völlig.

Bei der Evaluation sollen unter anderem die Mengenentwicklung und die finanziellen Auswirkungen auf die Krankenkassen untersucht werden. Kann man das untersuchen? Und wenn ja, wie?

KEMPER: Das ist genau das, wovor sich die Politik fürchtet: Dass ihnen die Gelder aus dem Ruder laufen. Das und die Sicherheit der Patienten stehen im Fokus. Die Politik möchte die Heilmittelbehandlung einfacher gestalten, aber nicht bedarfsgerechter. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist das aber der falsche Ansatz. Denn wir haben noch andere Probleme als nur den Fachkräftemangel und die schlechte Vergütung im Heilmittelbereich. Ob mehr Verantwortung für die Therapeuten auch mit höheren Kosten einhergeht, ist nur eine Teilfrage. Im Gesundheitssystem fehlt insgesamt Personal, das Geld wird auf Dauer auch nicht mehr und wir haben Morbiditätsprobleme, das heißt die Krankheitslast wird in bestimmten Bereichen enorm zunehmen. All diesen Herausforderungen sollten wir uns einmal generell stellen und zwar mit einem sektorenübergreifenden Blick.

Was meinen Sie damit?

KEMPER: Wir müssen die Patientenversorgung über Sektorengrenzen hinaus betrachten. Nehmen wir Arthrose oder Rückenschmerzen als Beispiel: Wäre die Physiotherapie hier ordentlich eingebunden, ließe sich viel Geld bei der stationären Versorgung oder auch der Pflege sparen. Es gibt Daten, zum Beispiel aus England, die zeigen, dass sich mit einer vernünftigen, evidenzbasierten Heilmittelversorgung die Kosten in anderen Sektoren verringern lassen. Damit wäre nicht nur den Patienten geholfen, sondern auch den angehenden Therapeuten, die damit einen sinnvollen und effizienten Beitrag in der Gesundheitsversorgung der Zukunft leisten könnten.

Doch solche sektorenübergreifenden Gedanken spielen hier gar keine Rolle. Man möchte uns nur bei Laune halten und das System ein wenig vereinfachen – und mit der Evaluation sicherstellen, dass die Menge – und damit auch die Kosten – nicht davonlaufen. Dabei wäre man gut beraten, zum jetzigen Zeitpunkt einmal alle Herausforderungen der Zukunft wirklich ernst zu nehmen.

Im Gesetz wird geregelt, dass schon vor Beginn der Evaluation Maßnahmen „zur Vermeidung einer unverhältnismäßigen Mengenausweitung in der Anzahl der Behandlungseinheit je Versicherten, die medizinischen nicht begründet sind“ festgelegt werden müssen. Ist das nicht etwas merkwürdig, wenn genau das, was man untersuchen will, schon vorher mit Sanktionen belegt wird?

KEMPER: Es bestätigt genau meine Vermutung, dass man Angst davor hat, dass Menge und Kosten aus dem Ruder laufen. Darum wird diese Stellschraube erst einmal festgezurrt. Wenn man wirklich wissen wollte, ob es durch die Blankoverordnung zu einer Ausweitung der Menge und Kosten kommt, dürfte man diese Schraube natürlich nicht gleich festziehen. Dann müsste man so offen sein, sich anzuschauen, ob es denn überhaupt passiert. Wenn ich die finanzielle Schraube jedoch von vornherein festziehe, quasi als verdeckte bzw. offene Budgetierung, ist das nicht nur ethisch-moralisch mal wieder sehr fragwürdig. Es ergibt auch wissenschaftlich keinen Sinn.

Das TSVG will auch die Auswirkungen der Blankoverordnung auf die Behandlungs- und Ergebnisqualität untersuchen. Gibt es denn dazu schon Daten ohne Blankoverordnung? Und wie wird man das wohl in Zukunft messen?

KEMPER: Wir wissen von der Heilmittelversorgung wie sie zurzeit stattfindet sehr, sehr wenig. Eigentlich wissen wir aus den Routinedaten nur, was die Ärzte verordnen. Was aber in der Praxis genau passiert, welche Maßnahmen die Kollegen innerhalb eines Spektrums Physiotherapie oder Manueller Therapie ergreifen, darüber habe wir keine validen Informationen.

Aus den Routinedaten lassen sich gewisse Qualitätsparameter ableiten – wie wir das im Heil- und Hilfsmittelreport auch getan haben. Doch die Heilmitteltherapie ist eine Blackbox, besonders die Physiotherapie. Die gilt es erst einmal zu öffnen, um zu schauen, was überhaupt passiert. Wir wissen zurzeit einfach zu wenig. Das muss sich ändern, damit wir herausfinden, wo wir ansetzen können, um die Qualität zu verbessern. Solange wir in diese Blackbox kein Licht bringen, können die derzeitigen gesundheitspolitischen Maßnahmen nur dazu dienen, das System ein wenig zu vereinfachen und Leistungserbringer, die ihren Unmut zeigen, ein bisschen zu beruhigen. Fachlich und wissenschaftlich sinnvoll ist diese Vorgehensweise nicht.

Frau Dr. Kemper, vielen Dank für Ihre Erläuterung und Einordnung.


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Manuela Straus
30.07.2019 9:32

Guten Tag Frau Dr. Kemper, danke für Ihr tollen Informationen… Weiterlesen »

Brigitte Hanke
31.03.2019 13:25

Ich bin immer wieder begeistert welche Informationen sie weitergeben, aber… Weiterlesen »

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