up|unternehmen praxis

„Wir müssen die Kollegen Ärzte davon überzeugen, dass der Direktzugang eine Entlastung ihrer ärztlichen Tätigkeit ist“ – Ein Interview mit Roy Kühne

Dr. Roy Kühne, Mitglied des Deutschen Bundestags (MdB) und Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis 52 Goslar-Northeim-Osterode im Interview mit Ralf Buchner über das vor rund einem Jahr in Kraft getretene Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG).
Foto von Roy Kühne

Das HHVG ist jetzt ziemlich genau ein Jahr in Kraft. Sie haben als Abgeordneter für die Heilmittelerbringer die Reform maßgeblich vorangetrieben. Nun sitzen Sie bereits in der zweiten Legislaturperiode hier im Reichstag – auf welchen Punkt aus Ihrem Gesetz sind Sie besonders stolz?

KÜHNE: Mit dem HHVG ist das erste Mal überhaupt etwas in dieser Richtung passiert. Früher wurde sich eigentlich nur nebenbei mit Heil- und Hilfsmitteln beschäftigt. Ein Punkt, der für mich sehr wichtig war, war die Entkopplung von der Grundlohnsumme. Wir hören überall, dass die Entlohnung der wichtigste Faktor ist, weshalb viele Therapeutinnen und Therapeuten den Beruf verlassen. Mit der Entkopplung von der Grundlohnsumme haben wir für die Verbände die Möglichkeit geschaffen, mehr Geld mit den Krankenkassen heraus zu handeln. Da finden noch erste Schritte statt.

Sind Sie mit der Entwicklung der Grundlohnsumme und der Entkopplung zufrieden? Es hörte sich eben ein wenig so an, als würden Sie das kritisch sehen.

KÜHNE: Natürlich sehe ich das kritisch, weil ich gehofft hatte, dass mehr dabei herauskommt – das sage ich ganz offen. Wir haben jetzt in einer Staffelung von über zwei bis drei Jahren eine 30-prozentige Erhöhung erreicht. Rechnet man sich das auf das Gehalt herunter und schaut sich die absoluten Zahlen an, dann sind es nachher vielleicht 2.500 Euro monatlich, die ein Therapeut bekommt. Wenn ich sehe, dass ein Kfz-Mechaniker teilweise 3.200 oder 3.500 Euro verdient – wobei der eine Autos repariert und der andere Menschen – und beide haben eine dreijährige Fachausbildung mit anschließender Qualifizierung absolviert, dann sage ich: Ich hätte mir mehr erhofft!

Ich habe hier ein fraktionsintern veröffentlichtes Positionspapier, in dem Sie Forderungen aufstellen, um dieses Problem zu lösen. Was genau fordern Sie?

KÜHNE: Das Sofortprogramm, das ich jetzt vorschlage, ist eigentlich nur eine Reaktion auf das in meinen Augen doch sehr mangelhafte Ergebnis, was bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen herausgekommen ist. Was ich vorschlage, ist die Angleichung beziehungsweise die Annäherung an die stationären Gehälter, die es im Therapiebereich gibt. Gucken wir uns die Gehälter an, die Therapeuten zum Beispiel in Krankenhäusern verdienen, dann ist das fast das Doppelte.

Und wenn wir über Gehälter reden und wissen, auch dort ist Therapeutenmangel, dann wissen wir auch ganz genau, was im nächsten Jahr passiert: Die Therapeuten aus der ambulanten Versorgung werden in die Krankhäuser strömen – erst recht, wenn wir über Personaluntergrenzen in Krankenhäusern reden. Und damit wird die komplette Versorgung, sprich das Patientenwohl, gefährdet.

Wir sehen es jetzt schon: In ländlichen Gegenden gibt es keine Therapeuten mehr und dadurch werden auch ganz bestimmte Patienten nicht mehr versorgt. Ein Beispiel: Lymphdrainage in einer ländlichen Gegend nach einer Brustamputation. Da rufen Sie gerne einmal bei den Praxen an. Diese werden Ihnen sagen, dass es ihnen leidtut, aber dass sie nicht mehr kommen können. Es lohnt sich für die Kolleginnen und Kollegen einfach nicht mehr.

Das Papier fordert jetzt also, dass die Gehälter angeglichen werden?

KÜHNE: Genau. Jens Spahn [Mitglied des Bundestags und Bundesminister für Gesundheit – Anm. d. Red.] hat den Bereich der Pflege als Beispiel genannt, in dem genau diese Abwanderungsprozesse bereits passieren. Dazu sage ich: Herr Minister, dass was Sie in der Pflege genau richtig erkannt haben, passiert bei den Therapeuten auch. Die Kolleginnen und Kollegen wandern ab, gehen in die Krankenhäuser und wir haben die Gefährdung.

Ich möchte, dass das, was wir in der Pflege machen, die Angleichung und Annäherung an die Tarifstrukturen in den Krankenhäusern, auch in den ambulanten Einrichtungen durchgesetzt wird. Das hieße dann für die Krankenkassen natürlich, dass sie hier investieren müssen. Aber ich glaube, dass diese Investitionen gute Investitionen sind – nämlich in das Patientenwohl.

Wie ist die Reaktion auf das Papier? Was sagen die Ministerien, was sagen die Fraktionskollegen, was sagen vielleicht sogar die Krankenkassen?

KÜHNE: Ich hatte inzwischen zwei, drei Gespräche mit dem Bundesgesundheitsminister, in denen er wirklich sehr neugierig war. Er wollte die Zahlen haben. Er ist ein faktenorientierter Mensch und ich denke, dass er daraus auch die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Dass er sagt: „Jawohl! Hier müssen wir investieren. Denn sonst haben wir das Problem, was wir heute bei den Pflegekräften sehen, morgen bei den Therapeutinnen und Therapeuten.“ Ich hoffe, dass Politik da einmal über den Tellerrand hinausschaut und die nächsten zwei, drei Jahre im Fokus hat – was sonst nicht immer so selbstverständlich ist.

Und natürlich schauen sich auch die Krankenkassen die aktuellen Zahlen an. Doch für die Therapeutinnen und Therapeuten liegt der Steigerungsanteil an den Gesamtausgaben der GKV bei 3,2 Prozent. Das ist für die Krankenkassen kein Weltuntergang.

Der zweite große Punkt auf der Agenda des HHVG war die Einführung von bundesweiten Modellversuchen zu Blanko-Verordnungen. Gibt es da aktuelle Projekte?

KÜHNE: Es gibt zwei kleine Projekte, die momentan laufen. Derzeit gibt es keine größeren Projekte, was ich natürlich bedauere. Ich hatte doch mehr Intension vorausgesetzt.

Einige GKV-Juristen haben sich vor Kurzem bei einem Symposium in Hamburg darüber unterhalten, dass Blanko-Verordnungen gerichtlich gar nicht umsetzbar seien. Sie bemängeln rechtliche Unzulänglichkeiten. Haben Sie da als Gesetzgeber Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht?

KÜHNE: Das würde ich so nicht sagen, denn wir haben natürlich auch im Vorfeld mit vielen Beteiligten darüber gesprochen – unter anderem mit dem GKV-Spitzenverband. Natürlich hätten uns die Kolleginnen und Kollegen dort im Vorfeld auf die eine oder andere Hürde hinweisen können. Nein, ich würde nicht sagen, dass wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben, denn es ist, glaube ich, zum Schluss auch der Wille, etwas durchziehen zu wollen. Und wenn man es nicht will, dann findet man immer eine Begründung, warum es nicht funktioniert.

Was hatten Sie erwartet, was die Beteiligten machen?

KÜHNE: Ich hatte mehr Bereitschaft bei den Krankenkassen erwartet, auch auf die Therapieverbände zuzugehen. Ich hatte mehr Bereitschaft bei den Ärzten erwartet, denen die „Entschlackung“ des Wartezimmers auch entgegenkommt. Aber es gab gesetzliche Krankenversicherungen, die sich auch öffentlich gegen diese Modellversuche ausgesprochen haben. Und natürlich waren die Therapieverbände an der einen oder anderen Stelle überlastet, gleichzeitig die Gehaltsverhandlungen zu führen und die Modellversuche zu kreieren. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hatte als junger Politiker gedacht, wenn es alle wollen, muss es doch funktionieren. Hat scheinbar nicht funktioniert.

Was ist jetzt der nächste Schritt nach der stattgefundenen oder nicht stattgefundenen Blanko-Verordnung?

KÜHNE: Ich würde jetzt einfach sagen, der nächste Schritt, der europaweit auch funktioniert, ist der Direktzugang. Da haben wir einen Stellfaktor weniger, denn wir haben nur noch die Verbindung zwischen Heilmittelerbringern, -verbänden und den Krankenkassen.

Die Ärzte haben in NRW kürzlich als Reaktion auf ein Statement von Karl-Josef Laumann [CDU-Politiker und Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW – Anm. d. Red.] gesagt, sie wollen das Verordnungsmonopol für die Ärzte weiter beibehalten. Was sagen Sie dazu?

KÜHNE: Die Kollegen Ärzte können nicht schreien, dass alles zu viel ist und sie ständig überlastet sind, und wenn man ihnen Möglichkeiten der Entlastung anbietet, nämlich den Direktzugang, lehnen sie ab. Welche Lösungen wollen sie denn? Das ist für mich dann auch nicht ganz klar.

Ich glaube einfach, dass wir die Kollegen Ärzte davon überzeugen müssen, dass der Direktzugang eine Entlastung ihrer ärztlichen Tätigkeit ist. Es wird das Wartezimmer „entschlackt“ und ich glaube, er trägt einfach zur Patientenzufriedenheit bei. Wir sehen es europaweit, wir sehen es weltweit. Und wir erfinden hier in Deutschland das Rad nicht neu. Ich habe nur das Gefühl, dass hier künstlich etwas verhindert wird, um eine Monopolstellung weiter zu festigen.

Sind die Therapeuten denn fit für den Direktzugang?

KÜHNE: Nein, das sind nicht alle. Auch europaweit sind es nur ungefähr 25 Prozent aller Therapeuten, die bereits einen Direktzugang haben. Die, die es wollen und sich qualitativ dafür fit fühlen, sollen es machen. Wir werden wahrscheinlich beide Systeme nebeneinander laufen lassen. Deshalb verstehe ich die Aufregung der Ärzte überhaupt nicht. Es werden sowieso nicht alle Therapeuten machen.

Wie schnell wird das umgesetzt? Noch in dieser Legislaturperiode?

KÜHNE: Ja, es soll diese Legislaturperiode umgesetzt werden, und ich bin dazu in Gesprächen – unter anderem auch mit unserem sehr neugierigen Minister, der sich fragt, welche Chancen das für unser Gesundheitssystem hat. Ich finde es gut, dass er so denkt und nicht nur aus der Sicht der einzelnen Anbieter. Er fragt sich: „Was ist für den Patienten gut?“ – Das brauchen wir.

Viel Glück bei der Umsetzung und vielen Dank für das Gespräch!

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Das vollständige Gespräch – aufgeteilt in mehrere Videos – können Sie sich auf unserer Facebook-Seite anschauen.

Hier geht es direkt zu Teil 1/12.

Themen, die zu diesem Artikel passen:
0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all Kommentare
0
Wir würden gerne erfahren, was Sie meinen. Schreiben Sie einen Kommentar.x