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Blick auf Betätigung

Amy Orellana geht sehr gerne ohne Therapiematerial auf Hausbesuch - nur mit ihrem Blick auf Betätigung
Ich gehe sehr gerne ohne Therapiematerial auf Hausbesuch, um meinen Blick auf die Betätigung zu schärfen. So richte ich meine komplette Aufmerksamkeit auf den Klienten und seine, ihm bedeutungsvolle Betätigung.
© kpalimski

Warum ist es Ihr Favorit?

In der Ergotherapie geht es für mich darum, mit dem Klienten in seinem persönlichen Alltag individuelle Möglichkeiten zu entwickeln, indem vorhandene Kompetenzen und Ressourcen genutzt, Einschränkungen minimiert und Hindernisse in der Umwelt reduziert werden. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann ohne Therapiematerial am besten angegangen werden, da eine Auseinandersetzung mit der realen Situation des Klienten unumgänglich ist. Auch der Klient erkennt so am besten, worum es bei der ergotherapeutischen Intervention geht: seine eigene Betätigung.

Wie sind Sie darauf gekommen?

Seit Beginn meiner Tätigkeit als Ergotherapeutin war mir der Alltag der Klienten ein Anliegen. Meine ersten Berufsjahre arbeitete ich in neurologischen Kliniken. Ich simulierte die häusliche Situation möglichst exakt – verschob Betten, um den Transfer, wie zu Hause gewohnt, zu üben. Ich fragte Angehörige nach Details: „Gibt es Möglichkeiten, sich beim Aufstehen festzuhalten?“ Ich ließ mir Gegenstände aus dem Alltag des Klienten mitbringen, zum Beispiel die eigenen Hausschuhe, um sie an der Bettkante anzuziehen.

Bis ich in eine Praxis wechselte und mit Hausbesuchen begann. Es war wie eine kleine Erleuchtung. Plötzlich ist alles so, wie es tatsächlich ist. Das Bett hat die Höhe, die es hat und steht in der Position, in der es steht – nichts musste nachgestellt werden. Zugleich sah ich auf einen Blick die Möglichkeiten und Hindernisse der Situation, ohne sie umständlich erfragen zu müssen: Das Nachtkästchen steht im Weg, die Ehefrau hetzt den Betroffenen, und eventuell könnte ein Haltegriff beim Aufstehen aus dem Bett helfen. Die Hypothesenbildung zur Ursache der misslingenden Betätigung gelang treffsicherer, und auch die Interventionsplanung war gezielter möglich.

Wie nutzen Sie Ihren Blick auf Betätigung?

Zum Einstieg in die Therapie wende ich das COPM (Canadian Occupational Performance Measure) an. Darin wird der Klient in einem halbstrukturierten Interview gefragt, welche Aktivitäten ihm momentan schwerfallen und ihm persönlich wichtig sind. Um ein umfassendes Bild des Alltags zu erhalten, werden die drei Bereiche Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit abgefragt.

In der darauffolgenden Einheit führe ich eine Betätigungsanalyse durch. Ich beobachte die Betätigung und bewerte folgende Faktoren der Durchführung: Anstrengung, Effektivität, Sicherheit und benötigte Hilfe. Meistens sind ein paar „break down points“ erkennbar. Das ist der Augenblick, an dem die erfolgreiche Ausführung der Betätigung verhindert wird oder ins Stocken gerät.

Mit der Kombination aus der beobachteten Durchführung der Betätigung und meinem theoretischen Wissen bilde ich eine Hypothese, um effektive und nicht effektive Aspekte der Durchführung zu identifizieren. Daraufhin erstelle ich den Interventionsplan, nach dem sich die Therapie richtet.

Mein Blick auf Betätigung bleibt während des gesamten Therapieprozesses weiterhin offen. Wenn mein Klient mir während des Transfertrainings am Bett berichtet, dass er kaum noch Kontakt zu den Enkeln hat, seit seine Stimme am Telefon nicht mehr gut verständlich ist, haben wir ein weiteres Therapieziel gefunden: Verbesserung des Kontakts zu den Enkeln.

Amy Orellana | Ergotherapeutin & Parkinson-Spezialistin, Stuttgart

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