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„Schutz vor Vereinsamung ist genauso wichtig, wie Schutz vor dem Virus“ – Therapie in Zeiten der Pandemie

Interview mit Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung zum Zugang zu stationären Pflegeeinrichtungen
Hygienemaßnahmen und möglichst wenige Kontakte – so lässt sich eine Ansteckung mit Covid-19 am besten verhindern. Im Lockdown im Frühjahr hat das u.a. dazu geführt, dass Menschen in Pflegeheimen keinen Besuch mehr bekommen konnten. Das verringert zwar die Ansteckungsgefahr, hat aber auch negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen. Wir haben mit dem Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, darüber gesprochen, wie es gelingen kann, eine erneute Abschottung der Pflegeheime zu verhindern – und warum das so wichtig ist.
© Arne Sattler

Herr Westerfellhaus, Sie haben im Oktober in einer TV-Sendung zum Thema „Das Virus kommt mit Macht zurück: Wer schützt jetzt die Alten?“ gesagt: „Schutz vor Vereinsamung ist genauso wichtig, wie Schutz vor dem Virus“. Warum ist es so wichtig, dass stationäre Einrichtungen der Langzeitpflege weiter geöffnet bleiben?

Die Bewohnerinnen und Bewohner in Langzeitpflegeeinrichtungen haben ihre Autonomie nicht an der Tür abgegeben. Sie haben ein Recht auf Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Beteiligung. Die Menschen, die sich in diese Wohnform begeben haben, brauchen die sozialen Kontakte, die soziale Teilhabe, das Gespräch mit ihren Angehörigen genauso sehr, wie den Schutz vor dem Virus.

Mir geht es hier um einen Gedankenwechsel: Es geht nicht darum, etwas für andere zu deren Schutz zu beschließen, sondern mit den Betroffenen zu entscheiden – unter Einbeziehung der Heimbeiräte aber auch der Pflegebedürftigen selbst. Zur Autonomie gehört dann auch, zu akzeptieren, wenn jemand sagt: „Nein, ich möchte in diesen schwierigen Zeiten keinen Besuch. Denn ich habe Angst vor einer Ansteckung.“ Wenn sich aber jemand entscheidet, dass es ihm wichtiger ist, seine Kinder und Enkel zu sehen, müssen wir das möglich machen.

Auch Therapeuten stehen bei Pflegeheimen immer wieder vor verschlossenen Türen. Dabei sind ärztlich verordnete, medizinisch notwendige Behandlungen ja erlaubt. Wie können sie sich verhalten?

Lassen Sie mich dazu noch einmal an den Anfang der Pandemie zurückkehren. Als wir da hineingeraten sind, gab es viele Unsicherheiten und offene Fragen. Da ist es verständlich, dass reflektorisch gesagt wurde: „Wir müssen die Kontakte reduzieren. Wir müssen verhindern, dass dieser Virus in unser Heim gerät.“ Denn es ist ja klar, dass das Virus nicht irgendwo in einer Ecke des Heims sitzt und darauf wartet, herauszukommen. Er wird natürlich von außen hereingetragen – aber eben durch alle: Besucher, Hauswirtschaft, Mitarbeiter. Da ist es natürlich klar, dass man sich etwas einfallen lassen muss, um die Menschen zu schützen. Hinzu kam das Problem, dass nicht ausreichend Schutzkleidung vorhanden war.

Mittlerweile haben wir viel gelernt und viele Erfahrungen gesammelt. Wir haben andere Schutzmaßnahmen, wir haben andere Konzepte. Meine Erfahrung ist, dass es in vielen Einrichtungen gut funktioniert – auch unter Einbeziehung von Therapeuten – aber in anderen noch nicht. Dann frage ich mich, woran das liegt und welche Unterstützung die Einrichtungen brauchen.

Das war für mich eine Initialzündung, gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden, mit den Einrichtungsbetreibern und unter Einbeziehungen der Betroffenenverbände, eine Handreichung zu entwickeln – abgestimmt mit und freigegeben vom RKI. Sie soll den Einrichtungen und allen Beschäftigten Sicherheit bei der Frage nach dem richtigen Verhalten geben. Das gilt übrigens nicht nur für die Besuchsregelungen, sondern für den Zugang von Therapeuten – und auch weiteren Personen, wie etwa Seelsorgern oder Ehrenamtlichen, die in die Pflegeeinrichtung hineingehen.

Noch ein Satz zur Behandlung durch Therapeuten: Wenn es eine medizinisch verordnete Notwendigkeit zur Behandlung gibt, dann kann man das den Menschen nicht vorenthalten. Ich sehe, wie notwendig und wie bedeutsam es ist, dass zum Beispiel Physiotherapie regelmäßig weiterhin zum Einsatz kommen kann. Wenn ich eine Verbesserung der Lebensqualität damit erreichen kann, wenn der Gedanke an Rehabilitation und Prävention somit aufrechterhalten wird, dann ist es für mich zwingend notwendig, auch die therapeutischen Berufe weiter in diese Prozesse miteinzubinden.

Kann man sich im Zweifelsfall auf diese Handreichung berufen?

Natürlich sind die Empfehlungen nicht rechtlich bindend, aber ich habe an vielen Stellen meiner pflegerischen Laufbahn erfahren, dass bei Auseinandersetzungen auch auf Expertenempfehlungen zurückgegriffen wurde. Wir führen hier zusammen, was es bereits Gutes gibt und haben uns auch angeschaut, was vielleicht gar nicht notwendig ist, zum Beispiel den Besuch von Kindern unter 12 Jahren zu untersagen oder bestimmte Verfahren bei mitgebrachter Nahrung oder auch Geschenken.

Die Handlungsempfehlung soll eine Richtschnur sein. Sie ist kein Rezept, das man jeder Einrichtung überstülpen kann, aber es ist eine Basis, an der man sich orientieren und weiterarbeiten kann. Und es bedarf einer ständigen Bearbeitung und Weiterführung, denn wir merken jeden Tag, dass sich in der Pandemie in den verschiedenen Sektoren auch neue Fragen ergeben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch mit Herrn Westerfellhaus führte Ralf Buchner.

Hinweis: Das Interview mit Andreas Westerfellhaus können Sie sich auch im up_Nachrichten Webcast vom 2. Dezember 2020 anschauen: www.up-aktuell.de/webcast-up_nachrichten

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