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„Sie sprechen für uns und über uns, aber keiner spricht mit uns“

Interview mit Olav Gerlach, Physiotherapeut und Mitglied in der Interessensgemeinschaft für Therapeuten in Schleswig-Holstein, zu einer fehlenden Selbstverwaltung
Unsicherheiten während der Corona-Pandemie, uneinheitliche Informationspolitik und Verbände, die nur einen kleinen Teil der Therapeuten vertreten – das sind Probleme, die man mit einer Therapeutenkammer umgehen könnte, meint Olav Gerlach, Physiotherapeut aus Kellenhusen in Schleswig-Holstein. Er erzählt uns, warum er eine solche Selbstverwaltung für wichtig hält.
© Arendt Schmolze

Herr Gerlach, was bewegt Sie dazu, sich für die Belange Ihrer Berufsgruppe einzusetzen?

Ich bin seit über 20 Jahren Physiotherapeut, aktuell angestellt. Mein Sohn ist einer der treibenden Kräfte, weshalb ich mich berufspolitisch engagiere. Ich möchte nämlich, dass er, wenn er sich in acht bis zehn Jahren dafür entscheiden sollte, Physiotherapeut zu werden, einen tollen, zukunftsorientierten Beruf lernen kann. Das ist momentan nicht gegeben.

Richtig motiviert wurde ich dann, als ich hier im Norden 2018 die Kreideaktion von Therapeuten am Limit mitorganisiert habe. Das war für uns ein wahnsinniger Erfolg. Daraus entstand für mich dieser Trieb in Richtung Berufspolitik. Wir haben schließlich im November 2018 eine Schulgeld-Demo in Kiel initiiert. Es dauerte daraufhin keine zwei Wochen, bis die Landesregierung die Schulgeldfreiheit für sechs Wochen später angekündigt hat. So etwas motiviert natürlich enorm.

Bei solchen Aktionen lernt man Therapeuten aus dem ganzen Bundesgebiet kennen, die ähnliche Interessen haben. Wenn man dann ein bisschen im Thema ist, merkt man schnell, dass es an vielen Stellen Änderungsbedarf gibt, damit unser Beruf nicht ausblutet.

Warum sind Sie nicht Mitglied in einem Berufsverband und engagieren sich auf diesem Weg berufspolitisch?

Ich bin Mitglied in der Interessengemeinschaft für Therapeuten in Schleswig-Holstein (IGThera-SH). Der Unterschied zu den Berufsverbänden: Wir stehen für alle Heilmittelberufe ein. Wir bräuchten noch viel mehr Mitglieder, aber diejenigen, die sich engagieren, sind echt dabei, etwas zu bewegen.

Ich war auch 15 Jahre Mitglied in einem Verband – weil ich die Zertifikatsfortbildungen günstiger bekommen habe. Im vergangenen Jahr habe ich mir dann mal verschiedene Verbandstreffen aus unterschiedlichen Bereichen ganz bewusst angesehen. Das war doch eher ernüchternd. Es findet gar keine kritische Diskussion statt. Für mich war das auch die Bestätigung, dass es richtig war, meine Mitgliedschaft in dem Verband gekündigt zu haben.

Dazu muss man sagen, dass die Medaille natürlich zwei Seiten hat: Ohne die Bereitschaft der Mitglieder zur Mitwirkung kann innerhalb des Verbands natürlich auch kaum gute Arbeit gemacht werden. Für die meisten Verbände ist es wiederum auch angenehm, wenn sie keinen Gegenwind aus den eigenen Reihen erfahren und die Führungsebene einfach machen kann, wie sie meint. Aber das ist genau das Problem: Der Kontakt zur Basis fehlt.

Dabei gibt es wirklich gute, engagierte Landesverbände, die aber auf Bundesebene überhaupt kein Gehör finden. Wir haben das zum Beispiel im Rahmen der TSVG-Verhandlungen gemerkt. Transparenz? Null. Selbst die Landesverbände werden nicht immer über das informiert, was in Berlin verhandelt und beschlossen wurde. Das heißt pro Verband verhandeln acht bis zehn Leute über die Zukunft aller Therapeuten der Berufsgruppe – nicht nur für die Verbandsmitglieder. Sie sprechen also für uns und über uns, aber keiner spricht mit uns und das ist einfach ein riesiges Problem momentan.

Sie sagen: Wir brauchen eine Selbstverwaltung/Therapeutenkammer. Warum halten Sie diese für so wichtig?

Die Therapeuten sind ziemlich schlecht organisiert. Es sind etwa 25 Prozent in einem Verband, das heißt 75 Prozent haben gar keine offizielle Informationsquelle. Wir sehen es täglich bei Facebook. Da gab es selbst im Dezember noch Posts von Therapeuten, die über die wichtigen Änderungen am 1. Januar nicht informiert waren.

Mit einer Therapeutenkammer könnte man solche Probleme umgehen. Wir hätten dann die Möglichkeit, alle Therapeuten zu erfassen und zu informieren. Das würde für die Therapeuten und auch die Politik bedeuten, dass es einen Ansprechpartner gibt, der die Informationen sammelt und entsprechend weitergeben kann – in beide Richtungen. Wenn alle Therapeuten in der Kammer vertreten wären, bin ich mir zudem sicher, dass der ein oder andere motiviert wäre, aktiv mitzuarbeiten.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Hürden auf dem Weg zu einer Kammer? Haben Sie Lösungen?

Es herrschen einfach zu viele Vorurteile gegenüber den Kammern, mit denen wir dringend aufräumen müssen. Die Leute haben Angst, dass es ein altes, verstaubtes Konstrukt wird, das uns Therapeuten übergestülpt wird. Wir sind aber bei den Kammerinitiativen auf Länderebene noch an einem Punkt, an dem jeder aktiv mitgestalten und dann per Basisdemokratie die Geschicke einer Kammer beeinflussen kann. Es geht dabei eben auch darum, alte Zöpfe abzuschneiden und eine moderne Selbstverwaltung zu schaffen. Aktuell sind wir doch komplett fremdbestimmt.

In der Politik finden wir bereits Gehör. Politiker wünschen sich auch einen zentralen Ansprechpartner. Sie sagen aber auch: Ihr müsst jetzt die Mehrheit der Therapeuten hinter euch vereinen. Da ist schon das erste Problem: Wie erreiche ich denn alle Therapeuten in den einzelnen Bundesländern?

Hinzu kommt, dass es einige bereits gegründete Kammern Probleme haben. Die Gegner sind natürlich laut und bringen die Probleme an die Öffentlichkeit. Aber unser Vorteil ist doch, dass wir aus den Fehlern einiger Pflegekammern lernen und unsere Kammer entsprechend anders gestalten können.

Dann ist da noch die Angst der Verbände, an Einfluss zu verlieren. Diese Sorge ist völlig unbegründet. Das Thema Vergütung gehört beispielsweise in die Hände der Verbände. Würden sich Berufsverbände und Therapeutenkammer die Aufgaben teilen, hätte jeder mehr Kapazitäten für die Kerngeschäfte und könnte so bessere Arbeit leisten. Verbände, Kammer und auch Gewerkschaften müssten in der Zukunft eng zusammenarbeiten, um die Probleme der Therapeuten zu lösen. Das wäre ideal.

Was wäre in Bezug auf die Pandemie mit einer Therapeutenkammer anders gelaufen?

Ganz oben steht die Informationspolitik. Wenn es neue Verordnungen und Beschlüsse gibt, werden sie zwar vom Ministerium veröffentlicht, aber momentan ist es so, dass sich jeder Therapeut selbst darüber informieren muss. Da ist die Unsicherheit bei den Therapeuten immer groß.

Wir von der IGThera haben im ersten Lockdown fast täglich eine Tageszusammenfassung online gestellt. Dabei haben wir auch gemerkt, wie dankbar die Kollegen dafür waren. Dabei funktioniert hier in SH unsere Zusammenarbeit mit der Politik sehr gut. Wir haben eine gewisse Nähe hergestellt und können auch mal eine WhatsApp-Nachricht an einen Landespolitiker oder ins Ministerium schicken, auf die wir noch am Abend eine Antwort erhalten. Und diese kurzen Wege sind auch gerade aktuell im Zusammenhang mit der Krisenbewältigung für die Aufklärungs- und Informationspolitik enorm wichtig.

Uns fehlt in dieser Zeit einfach der eine lange Hebel, mit dem wir Druck ausüben können. Wir brauchen insgesamt also ein anderes Standing gegenüber der Politik und vor allem einheitliche Regelungen für die Branche. Diese Aufgabe könnte eine Kammer definitiv leisten, mit der Rückendeckung der Mehrheit der Therapeuten.

Herr Gerlach, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Das Gespräch mit Olav Gerlach führte Katharina Münster.

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Frau Regina Grabher-Heber
04.01.2021 10:30

Da muss ich Hr. Gerlach recht geben, eine Kammer wäre… Weiterlesen »

Martin Weyer
28.12.2020 15:18

Für mich müsste eine Therapeutenkammer an ein Versorgungswerk geknüpft werden.… Weiterlesen »

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