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Mehr Kompetenzen für Heilberufler

Vergütung, Akademisierung und Ausbildung von Therapeuten

Im Paralympischen Dorf in Rio, in der internationalen Begrüßungszone, haben sich Physiotherapeutin der Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft Bärbel Börgel, Bundestagsabgeordneter Dr. Roy Kühne sowie Rollstuhlbasketball-Nationalspieler und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit Dirk Köhler eingefunden. Im Gespräch mit up diskutieren sie über eine bessere Ausbildung, eine gerechte Vergütung sowie mehr Kompetenzen für Heilmittelerbringer.
© Katharina Münster

up: Was stört Sie an der aktuellen Situation der Heilmittelerbringer?

Roy Kühne: Therapeuten brauchen einfach mehr freie Hand. Aktuell stellen Ärzte eine Diagnose und verordnen daraufhin physiotherapeutische Maßnahmen. Die Patienten kommen mit ihrem Rezept dann in die Praxis. Stellen die Therapeuten vor Ort fest, dass beispielsweise Lymphdrainage für den Patienten viel geeigneter wäre als die verordnete Manuelle Therapie, dann geht das Hin und Her los. Der Physiotherapeut ruft beim behandelnden Arzt an und klärt ihn auf, dieser muss eine neue Verordnung ausstellen und erst dann gibt es die für den Patienten eine geeignete Behandlung. Das ist für beide Seiten ein enormer Aufwand.

Bärbel Börgel: Ja, das sehe ich auch so. Es ist ja auch Teil unserer Ausbildung, Kontraindikationen verordneter Maßnahmen zu benennen und geeignetere für die verschiedenen Krankheitsbilder zu ergreifen. Selbstständige Entscheidungen über die richtigen Therapien treffen zu können, ist ein wichtiger Schritt. Der viel besprochene First contact wäre da langfristig ein Traum von vielen Therapeuten. Aber ich glaube, dass das momentan aufgrund der unterschiedlichen Qualitäten in der Ausbildung schwierig wird. Ich selbst kann mir gut vorstellen, den First contact zu meinen Patienten zu haben. Das bedeutet: Die Patienten kommen zu mir in die Praxis, ich mache die Befundaufnahme und behandele sie entsprechend. Wenn ich einen schwierigen Fall vor mir habe, schicke ich ihn zurück zum Arzt. Ich traue mir zu, entscheiden zu können, was die Patienten benötigen. Ich glaube aber, dass es viele Therapeuten gibt, die das gar nicht möchten, weil die Ausbildungsbandbreite bei uns viel zu groß ist.

Roy Kühne: Ja klar, die gibt es mit Sicherheit.

Bärbel Börgel: Wir haben Leute, die mit 16 Jahren bereits die Ausbildung beginnen können und dann an irgendwelchen Privatschulen ausgebildet werden. Auf der anderen Seite sind da die Therapeuten, die ein Studium absolvieren. Diese werden viel eher für selbstständiges Arbeiten ausgebildet und eben nicht verschult. Ich habe sowohl eine Ausbildung, zahlreiche Fortbildungen sowie ein Studium abgeschlossen. Ich habe kein Problem damit, Patienten vernünftig zu untersuchen. Aber es ist nicht in Ordnung, wenn ich dafür so schlecht bezahlt werde. In der Pflege zum Beispiel gibt es für eine Eingangsuntersuchung eine Vergütung.

up: Wie handhaben Sie das in Ihrer Praxis?

Bärbel Börgel: Wir haben in der Budgetierung sechs Behandlungseinheiten pro Rezept mit drin. Wenn ich dann in der ersten Einheit eine Befundaufnahme machen muss, sagen die Patienten: Ja, aber Sie müssen mich jetzt mal behandeln. Das war bei uns in der Praxis echt ein Kampf, bis die Patienten unser Vorgehen verstanden haben. Ich habe immer gesagt: Sie gehen doch auch nicht zum Zahnarzt, machen den Mund auf und er fängt dann einfach mal an zu bohren, ohne vorher zu gucken, welche Zähne eigentlich betroffen sind. Das kam dann auch an.

Roy Kühne: Ja, aber den Begriff Befund gibt es nicht. Ärzte untersuchen und stellen eine Diagnose. Alles andere ist egal.

Bärbel Börgel: Aber wir befunden ja trotzdem.

Roy Kühne: Das können Sie ja machen, aber das ist nicht der Anspruch. Das steht nicht auf dem Rezept. Es steht auch nirgendwo geschrieben, dass Sie das machen müssen.

Bärbel Börgel: Ja, aber eine Behandlung ohne Befund, das ist einfach nicht möglich und wäre fahrlässig.

Roy Kühne: Der Präsident der Ärztekammer Montgomery würde dazu sagen: Dafür haben Sie die Diagnose. Es gibt im gesetzgebenden Prozess keinen Befund. Sie können den gesamten Paragraf 5 durchlesen, das gesamte SGB, es gibt den Begriff dort nicht.

Bärbel Börgel: Aber gibt es denn keine Möglichkeit, das zu verändern? Ich bin der Meinung, dass das von Nöten wäre, um eine qualitativ hochwertige Therapie für Patienten gewährleiten zu können. Eine ärztliche Diagnose reicht nicht aus, um eine differenzierte physiotherapeutische Behandlung durchzuführen. Nehmen wir den Bandscheibenvorfall L4/5 als Beispiel. Das sagt noch nicht aus, ob motorische Ausfälle, Einschränkungen oder sensible Ausfälle vorliegen oder nur lokal Schmerzen auftreten. International ist das einfach Standard, dass Physiotherapeuten erst einmal befunden und Befund sowie Behandlung dokumentieren. Es gibt dann eine ärztliche Diagnosestellung und eine physiotherapeutische Befundaufnahme. Und ohne Befund kann ich nicht behandeln. Da würde der Heilungsprozess ja noch viel länger dauern.

Roy Kühne: Wenn wir internationale Vergleiche heranziehen, müssen wir uns auch die Ausbildung ansehen. Diese muss ganz neu konzipiert werden. Ansonsten würde ich momentan vielen Therapeuten in Deutschland nicht den First contact zutrauen. Deshalb stehen auch zuerst ein Modellversuch Blankoverordnung und eine Evaluierung der Ausbildungsverordnung an. Dann folgt die Akademisierung und anschließend können wir zertifizierten Therapeuten den Direktzugang gewähren.

up: Gibt es dafür denn Vorbilder?

Bärbel Börgel: Ich denke, für Deutschland könnte sich das amerikanische Modell eignen. In den USA gibt es Physical Therapists, also PTs und Physical Therapist Assistants, PTAs. PTs haben eine höhere Ausbildung als PTAs. Das heißt dann zum Beispiel, der PT macht die Befundaufnahme und behandelt, während PTAs nur die Behandlungen übernehmen. So ein Modell könnte ich mir auch für Deutschland vorstellen.

Roy Kühne: Richtig. Wir müssen uns auch mehr bei der Wirtschaft abschauen. Da haben wir den Ingenieur, den Meister und den Gesellen. Diese Parallelstruktur hat sich in der Wirtschaft bewährt. Dort gibt es jemanden, der die Lage beurteilt und es gibt jemanden, der die Sache ausführt. Das funktioniert in der Kfz-Werkstatt gut. Das hat auch gar nichts mit Diskriminierung zu tun. Auch dort wird der Geselle entsprechend gut entlohnt und das funktioniert in der Physiotherapie ja aktuell überhaupt nicht. Deshalb gibt es diese Flucht nach vorne in Richtung Osteopathie und Heilpraktiker. Die meisten Physiotherapeuten sind sehr glücklich in ihrem Beruf, aber sehr unglücklich mit ihrer Entlohnung sowie ihrer gesellschaftlichen Anerkennung.

Bärbel Börgel: Absolut, das sehe ich auch so. Für mich als Praxisbesitzerin ist es häufig sehr schwer, gutes Personal zu finden. Ich bekomme auf eine Stellenanzeige nicht mehr unzählige gute Bewerbungen. Ich habe auch gar kein Problem damit, meine eigenen Leute auszubilden und denen die Chance zu geben, in den Beruf reinzuwachsen.

Roy Kühne: Das ist unbedingt nötig. Wir arbeiten hingegen noch in einem verschulten System, das die Therapeuten auch in eine gewisse Unselbstständigkeit bringt. Auf der anderen Seite verlangen wir aber gleichzeitig von jungen Menschen, die in die Wirtschaft gehen, eine hohe Selbstständigkeit. Wir müssen das Ausbildungssystem ändern und die erfahrenen Kräfte aus der Praxis abholen, indem wir auch berufsbegleitende Praktika über einen längeren Zeitraum ermöglichen. Vielleicht wäre ein Ausbildungssystem wie in der Wirtschaft auch in der Therapie gut: Die Schüler gehen zur Schule und lernen dort die Theorie. Zudem arbeiten sie in Praxen und verinnerlichen dort das praktische Handwerkszeug von erfahrenen Therapeuten. Die Praxisinhaber können gucken und sagen: Ja, der passt nicht nur fachlich, sondern auch menschlich zu uns in Team.

Bärbel Börgel: Genau, wir bilden aus und übernehmen den Auszubildenden dann im Idealfall später.

Roy Kühne: So können wir auch rechtzeitig das Problem Nachwuchssorge angehen. Das ist ja auch ein finanzieller Aspekt für die Schüler. Schulgeld ist einfach nicht mehr angemessen in einem der schlechtbezahltesten Berufe Deutschlands. Dazu kommen dann auch noch die hohen Kosten für Weiterbildungen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Erst einmal muss die Entlohnung steigen, damit die Praxisinhaber auch bereit sind, in so etwas wie Ausbildungsvergütungen zu investieren.

Dirk Köhler: Ich arbeite in der Bundesagentur für Arbeit im Gesundheitsbereich. Das heißt, ich vermittele unter anderem Physiotherapeuten. Aber wir fördern sie auch. Jemand, der eine Physiotherapieschule besucht und keine Weiterbildung Lymphdrainage hat, ist nun fast nicht vermittelbar, obwohl es einen großen Mangel an gutem Fachpersonal gibt. Dann zahlen wir in der Regel die Kosten für die vierwöchige Weiterbildung Lymphdrainage. Mithilfe dieser Bildungsgutscheine verbessern wir so die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Roy Kühne: Über das Thema Bildungsgutscheine im Bereich Physiotherapie haben wir im Bundestag auch schon diskutiert. Das ist eigentlich Betrug am Steuerzahler. Denn der Markt ist momentan so, dass Praxen Personal suchen. Eigentlich müssten wir sagen, dass es diese Bildungsgutscheine für Lymphdrainage nicht mehr gibt. Die klassische Begründung für die Bildungsgutscheine lautet ja, dass die, die sie erhalten, sich so für den Arbeitsmarkt qualifizieren können. Aber im Bereich Physiotherapie haben wir kein Arbeitsmarktproblem, sondern eines mit der Ausbildung. Wir stellen also fest, dass wir Leute ausbilden, die anschließend auf dem Arbeitsmarkt mit ihrem Ausbildungsstand nicht gefragt sind.

Dirk Köhler: Ja, das sehe ich auch so. Die Chancen für Physiotherapeuten sind eigentlich überdurchschnittlich gut. Ich betreue die Praxen im Lahn-Dill-Kreis und die suchen alle händeringend nach Mitarbeitern und kriegen keine. In Gießen gibt es eine Schule, die 25 Plätze anbietet, Marburg dann noch mal sieben. Aber das war es dann auch schon. Das deckt bei weitem nicht den Bedarf an Mitarbeitern.

Bärbel Börgel: Das ist auch ein Trick, um Geld zu sparen. Die Ausbildung ist sehr teuer. Um sich dann selbst besser vermarkten zu können, gehen viele zur Agentur für Arbeit und lassen sich diesen Kurs bezahlen. Auch den Kurs Manuelle Therapie müssen die Physiotherapeuten zusätzlich zu ihrer Ausbildung absolvieren. Im Ausland beinhalten die Ausbildungen diese Zertifikatskurse. Das heißt, hier in Deutschland sind wir im Bereich der MT nach der Ausbildung nicht auf dem gleichen Stand wie in vielen anderen Ländern. Es kann einfach nicht sein, dass unsere Ausbildung hier drei bis vier Jahre dauert und dann müssen sich die Leute zusätzlich noch für unheimlich viel Geld und Zeit nachqualifizieren, damit sie im internationalen Vergleich mithalten können.

up: Wer stellt denn da gerade die Hürden auf?

Roy Kühne: Dazu gibt es zwei Fragen, die wir beantworten müssen. Der erste Punkt ist, dass die Kollegen aus der Ärzteschaft, und das sind gerade die älteren aus den Verbänden, nicht die aus der Praxis, sagen: Wir stellen die Diagnosen, der Therapeut soll behandeln. Nun kann man darüber diskutieren, ob Wirbelsäulensyndrom eine Diagnose ist.

Zweitens sind die Krankenkassen aktuell nicht daran interessiert, höher qualifizierte Therapeuten und Behandlungen zu honorieren. Denn sie wissen, dass sie dem Meister mehr bezahlen müssten als dem Gesellen. Ein erstes Signal muss die Entkoppelung von der Grundlohnsumme sein. Also eine bessere Bezahlung als Motivation. Damit sich junge Menschen überhaupt wieder für den Beruf interessieren.

Es ist ganz klar die Aufgabe der Krankenkassen, Bereitschaft zu zeigen, in die Heilmittelberufe zu investieren. Wir werden uns eines Tages gar keinen anderen Weg leisten können, weil wir nicht mehr genug Ärzte haben. Die Krankenkassen haben einfach aktuell einen anderen Fokus: Ärzte und Krankenhäuser. Sie sehen nicht, was für ein großes Potenzial die Heilmittelbranche bietet: weniger Operationen, kürzere Wartezeiten und seltenere Krankschreibungen.

Bärbel Börgel: Ich glaube, viele sorgen sich, dass die Kosten explodieren, wenn es nur noch Blankoverordnungen gibt und die Therapeuten nun selbst entscheiden, was und wie viel sie behandeln. Im Ausland gibt es jedoch Studien, dass die Kosten gesenkt wurden oder zumindest gleichbleiben. Die Befürchtungen sind zwar da, bewahrheiten sich aber nicht.

Roy Kühne: Da muss ich korrigieren. Bei dem Modellversuch Direktzugang sind erst die Kosten gestiegen, dann wurden die Kollegen darauf hingewiesen, schließlich fielen die Kosten sogar unter den normalen Wert und jetzt pendeln sie sich im Normalbereich ein. Ich stimme zu. Das wird ein Lerneffekt sein. Ich verstehe die Kollegen auch: Erst wer weiß, dass er konstant gut bezahlt wird, legt eine Gelassenheit an den Tag.

Bärbel Börgel: Richtig. Erst wenn wir das Gefühl haben, wir werden leistungsgerecht bezahlt, werden wir gelassener. Auch die Nachwuchssorgen könnten sich dann legen und mehr junge Menschen in diesem Beruf halten.

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