Heute schon achtsam gewesen?
Herrn Eßwein, was genau versteht man unter Achtsamkeit?
EßWEIN: Dabei handelt es sich um die Fähigkeit, sich selbst und die eigene Umwelt bewusst wahrzunehmen und voll und ganz bei dem zu sein, was wir gerade fühlen, empfinden und womit wir uns beschäftigten. Ich vergleiche Achtsamkeit immer gerne mit einem Scheinwerfer. Dort, wo ich den Lichtstrahl hinrichte, wird es hell und ich sehe, was los ist. Wenn ich ihn auf mich richte, sehe ich, was meine Bedürfnisse sind, was ich fühle und wie es mir emotional geht. Wenn ich den Lichtstrahl auf jemanden andere richte, etwa einen Mitarbeiter, kann ich mich in ihn einfühlen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass gerade Therapeuten und auch Praxisinhaber den Scheinwerfer viel häufiger auf andere als auf sich selbst richten. Eigene Bedürfnisse rücken in den Hintergrund, man arbeitet vielleicht oft mehr als für die eigene Gesundheit förderlich ist und fühlt sich dauerhaft gestresst.
Wie kann Achtsamkeit dabei helfen, Stress zu reduzieren?
EßWEIN: Stress an sich ist per se nicht schlecht. In bestimmten Situationen ist er sogar hilfreich, da er uns kurzzeitig aktiviert. Für den Körper belastend wird Stress jedoch, wenn er chronisch wird. Schlafstörungen, Reizbarkeit, reduzierte Leistungsfähigkeit des Gehirns, Verdauungsprobleme, Muskelverspannungen und sogar Stoffwechselstörungen und Organschäden können Folgen chronischen Stresses sein – um einige negative Folgen beispielhaft zu nennen. Nicht selten endet zu hohe Arbeitsbelastung auch im Burnout-Syndrom.
Die Schwierigkeit vieler ist jedoch, alte Denk- und Gewohnheiten zu durchbrechen und die Art und Weise, wie wir auf Stress reagieren, zu verändern. Achtsamkeit hilft, unempfindlicher gegenüber Stress zu werden, indem wir reflektierter mit Belastungssituationen umgehen. Ein bewährtes Konzept dafür ist Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), auf deutsch achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (mehr dazu im Kasten, Anm.d.Red.).
Sie sagen selbst, dass es schwierig ist, Verhaltensweisen abzulegen. Was hilft, um durchzuhalten?
EßWEIN: Gerade in der Anfangszeit, wenn man MBSR erlernt, ist schon ein gewisses Maß an Disziplin gefragt – auch wenn pro Tag 20 bis 30 Minuten für die Übungen, etwa Yoga oder Meditation, vollkommen ausreichen. Als Praxisinhaber weiß ich aber selbst, wie voll die Arbeitstage gepackt sind und wie schwer es sein kann, sich bewusst auszuklinken. Gewöhnen Sie sich daher an, die Übungen immer zur gleichen Tageszeit durchzuführen. Entweder morgens direkt nach dem Aufstehen, abends, wenn man nach Hause kommt oder direkt vor dem Schlafengehen. Hilfreich ist zudem, Achtsamkeit nicht nur anhand spezieller Übungen zu erlernen, sondern sie auch in den Alltag zu integrieren. Etwa, indem Sie bewusster essen oder kommunizieren (mehr dazu im Kasten, Anm.d.Red.). So wird Achtsamkeit realer. Und als dritten Tipp habe ich, sich immer nur auf einen Bereich im Alltag zu konzentrieren und für drei bis vier Wochen Achtsamkeit im Rahmen dessen zu üben. Beispielsweise auf die Kommunikation zu achten und auch mal ein freundliches Nein zu sagen, wenn es Ihnen zu viel wird.
Können Sie uns eine einfache Übung an die Hand geben, die uns hilft, in akut stressigen Situationen herunterzukommen?
EßWEIN: Dafür eignet sich sehr gut die Übung Breathing Space. Die kann jeder in zwei bis drei Minuten machen. Starten Sie damit, kurz innezuhalten und sich bewusst zu machen, wie es Ihnen gerade geht. Versuchen Sie Ihr körperliches Befinden und Ihre Stimmung möglichst freundlich und offen wahrzunehmen. Fokussieren Sie sich dann auf Ihre Atembewegung. Atmen Sie zehn Mal bewusst tief und langsam ein und aus. Bevor Sie sich der nächsten Aufgabe widmen, fragen Sie sich, wie Sie die gewonnene Achtsamkeit in den Arbeitsprozess übertragen möchten. Vielleicht wollen Sie als nächstes erstmal den Schreibtisch ordnen, ein ToDo aufschreiben, um den Kopf frei zu kriegen, oder ein Glas Wasser trinken. Die Übung hilft Ihnen, sich zu zentrieren und Ihre Energie neu zu bündeln.
MBSR – das KonzeptDas Programm der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) setzt sich aus drei Säulen zusammen:
Vielen hilft es, das Konzept Schritt für Schritt im Rahmen eines Kurses zu erlernen. Dieser dauert in der Regel acht Wochen. Während der wöchentlichen Treffen leitet ein MBSR-Lehrer die Teilnehmer in den Achtsamkeitsübungen an und gibt Tipps, wie man Achtsamkeit im Alltag anwenden kann. Die Übungen führt dann jeder Teilnehmer täglich zuhause selbstständig durch, um das Gelernte zu verinnerlichen – die Kompetenz, mit Stress umzugehen, wächst. Um langfristig davon zu profitieren, ist es wichtig, die Übungen dauerhaft in den Alltag zu integrieren. Tipp: Auf der Website des MBSR-MBCT Verband e. V. (www.mbsr-verband.de) sind deutschlandweit Anbieter gelistet und nach PLZ geordnet. |
Ausbildung zum MBSR-LehrerTherapeuten können sich als MBSR-Lehrer ausbilden lassen und entsprechende Kurse selbst in der Praxis anbieten. Der MBSR-8-Wochenkurs ist als Präventionskurs nach §20 Abs.1 SGB V zertifiziert. Um sich zum Lehrer ausbilden lassen zu können, müssen laut MBSR-MBCT Verband e. V. folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
Die Ausbildung dauert mindestens ein Jahr und umfasst 245 Unterrichtsstunden (oder mehr). Teil der Ausbildung ist zudem die selbstständige Durchführung eines 8-Wochen-Kurses und das Erstellen einer Abschussarbeit. Der MBSR-MBCT Verband hat Standards für die Voraussetzung und Inhalte der Ausbildung festgelegt, die auf den internationalen Richtlinien des IMI (International Integrity Network) basieren. Eine Übersicht zu vom MBSR-MBCT Verband zertifizierten Anbietern finden Sie unter: www.mbsr-verband.de/ausbildung/ausbildungspartner |
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