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Korruption: „Wenn keiner etwas dagegen tut, fällt immer einer hinten runter“

Ein Interview mit Dina Michels

Dina Michels studierte Rechtswissenschaften in Hannover mit dem Schwerpunkt Kriminologie. Von 2005 bis Anfang 2017 leitete sie in der Hauptverwaltung der Kaufmännischen Krankenkasse die Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen. Im März 2017 wurde sie als Chief Fraud Detection Officer zur Beauftragten dieser Stelle ernannt. Ihre Tätigkeit erfolgt bundesweit und hat ihren Schwerpunkt im Bereich des Straf-, Sozial- und Zivilrechts. Frau Michels nahm an Expertengesprächen im Gesundheitsausschuss teil und wurde mehrfach als Einzelsachverständige zum Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen im Deutschen Bundestag angehört.
© Dina Michels

up|unternehmen praxis: Frau Michels, ich hatte Ihnen kurz die Erfahrungen der Berliner Ergotherapeutin aus der up Januar-Ausgabe geschildert. Sind Ihnen solche oder ähnliche Fälle aus dem Heilmittelbereich bekannt?

MICHELS: Ja, so etwas gibt es, leider – und sehr verbreitet sogar. Als ich vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal aus der Branche, also aus dem Kreis der Leistungserbringer, davon gehört habe, war ich schon einigermaßen entsetzt, wie sie sich vorstellen können. Damals hatte mich eine Hörgeräteakustikerin aus Bayern angerufen, die sich neu niedergelassen hatte, und berichtete, dass mehrere Ärzte aus ihrem Umfeld mit der Frage auf sie zugekommen seien, was sie denn nun für Hörgeräte-Verordnungen zahlen würde. Sie selbst steckte dann natürlich in der Zwickmühle, denn sie wusste: ‚Ich darf so etwas nicht machen. Ich darf nicht für Verordnungen bezahlen.‘ Gleichzeitig haben die Ärzte ihr aber auch unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie, wenn sie sich nicht darauf einlässt, ihren Laden auch gleich wieder dichtmachen kann.

Das ist jetzt ein Beispiel aus dem Hilfsmittelbereich. Aber auch aus anderen Bereichen hören wir immer wieder von solchen Fällen. Ich bin jetzt seit 15 Jahren dabei und weiß, dass es diese Form der Korruption in ganz, ganz vielen verschiedenen Ausformungen gibt und auch in mehr oder weniger allen Leistungsbereichen.

„Die besondere Situation eines nichtärztlichen Leistungserbringers ist die, dass er nur über die Verordnungen von Ärzten Geld verdienen kann.“

Korruption entsteht auch nicht immer nur auf Initiative der Ärzte. Die nichtärztlichen Leistungserbringer spielen ebenfalls einen großen Part, indem sie auf die Ärzte zugehen. Aus unserer Erfahrung hält sich das ungefähr die Waage. Wir dürfen dabei auch nicht vergessen: Die besondere Situation eines nichtärztlichen Leistungserbringers ist die, dass er nur über die Verordnungen von Ärzten Geld verdienen kann. Die braucht er. Allein diese Ausgangssituation verleitet schon dazu, auf Ärzte Einfluss zu nehmen.

„Patienten haben grundsätzlich das Wahlrecht. Sie können selbst bestimmen, zu welchem Therapeuten sie gehen.“

up|unternehmen praxis: Welche Möglichkeiten haben Patienten, wenn ihr Arzt das Ausstellen einer Verordnung an die Bedingung knüpft, sich in einer bestimmten Praxis behandeln zu lassen?

MICHELS: Patienten haben grundsätzlich das Wahlrecht. Sie können selbst bestimmen, zu welchem Therapeuten sie gehen. Sie können sagen: ‚Ich gehe dahin, wo ich hingehen will. Und wenn Sie mir die Verordnung nicht geben, wechsle ich den Arzt.‘ Allerdings spielt im Arzt-Patienten-Verhältnis natürlich das Vertrauen eine wichtige Rolle – auch für den Behandlungserfolg. Insofern halte ich es gerade für Patienten für fatal, wenn sie in eine solche Situation kommen. Aber sie haben dann keine andere Wahl, als dem Arzt / der Ärztin die Stirn zu bieten und zu sagen: ‚Ich habe einen guten Therapeuten. Da gehe ich hin.‘

Wenn sie dann keine neue Verordnung bekommen, sollten sie den Arzt wechseln. Patienten, die sich das trauen, können aber auch sagen: ‚Ich melde das der Ärztekammer.’ Oder, was viele Ärzte sicher noch mehr verunsichert: ‚Ich melde das der Antikorruptionsstelle meiner Krankenkasse.‘ Jede Krankenkasse hat eine solche Stelle, und die Versicherten können und sollen sich an diese wenden. Die Krankenkassen müssen den Hinweisen dann nachgehen. Therapeuten können die Patienten darin bestärken, diesen Schritt zu gehen. Ich warne aber davor, Patienten mit solchen Kontrollfunktionen zu überfrachten.

„Berlin ist ein Moloch, auch wegen der hohen Leistungserbringerdichte. Da muss jeder sehen, wo er bleibt.“

up|unternehmen praxis: Wenn sie den Patienten nicht die Verantwortung aufbürden möchten, wie können dann die Therapeuten selbst aktiv werden?

MICHELS: Heilmittelerbringer können selbst die entsprechenden Stellen informieren. Gerade bei dem Thema der unzulässigen Zusammenarbeit, so der sozialrechtliche Begriff, können sie sich zuerst einmal an uns, die Krankenkassen, wenden. Wir brauchen dazu auch keine Angaben zu den betroffenen Patienten – zumindest, wenn sie nicht bei uns versichert sind. Denn da wird es in Sachen Datenschutz ja schon wieder schwierig. Wenn wir entsprechende Hinweise bekommen, gehen wir dem natürlich nach.

Mich interessiert diese Strukturkriminalität übrigens viel mehr als der, ich nenne ihn mal, ganz normale Abrechnungsbetrug, den jeder kann und jeder versteht, weil er keine Spezialkenntnisse erfordert. Ich halte es für besonders wichtig, etwas gegen diese Strukturkriminalität zu tun, weil es sich dabei um höchst wettbewerbsschädliche Verflechtungen handelt, die sehr weit verbreitet sind – übrigens gerade auch in Berlin. Berlin ist ein Moloch, auch wegen der hohen Leistungserbringerdichte. Da muss jeder sehen, wo er bleibt.

„Hinweise können auch anonym gegeben werden. Wir haben ein elektronisches Hinweisgebersystem eingerichtet, mit dem zum Beispiel auch Landeskriminalämter arbeiten.“

up|unternehmen praxis: Wie gehen Sie mit den Hinweisen um, die Patienten oder Therapeuten an Sie herantragen?

MICHELS: vEin Beispiel: Ergotherapeut XY gibt uns einen Hinweis auf unzulässige Zusammenarbeit. Dann prüfen wir zunächst einmal, ob wir genügend Abrechnungen mit der entsprechenden Praxis vorliegen haben. Wenn ja führen wir eine Versichertenbefragung durch – natürlich sehr vorsichtig formuliert. Wir befragen also Patienten, die bei uns versichert sind und zu diesem bestimmten Arzt gehen. So schauen wir, ob sich der Verdacht auf Patientenzuweisungen über den Einzelfall hinaus bestätigt.

Ganz wichtig: Hinweise können auch anonym gegeben werden. Wir haben ein elektronisches Hinweisgebersystem eingerichtet, mit dem zum Beispiel auch Landeskriminalämter arbeiten. Das eignet sich hierfür besonders gut, denn Hinweisgeber können einen elektronischen Postkasten einrichten, über den wir uns austauschen können, ohne dass die Anonymität in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird.

up|unternehmen praxis: Haben Sie hier Erfahrungen aus dem Heilmittelbereich? Melden sich Leute bei Ihnen?

MICHELS: Ja, gerade für das Thema unzulässige Zusammenarbeit bekommen wir einiges an Informationen über dieses System. Insbesondere auch aus dem Bereich der Physiotherapie. Hier erhalten wir viele Hinweise von Leistungserbringern, weil es ja gerade die Wettbewerber sind, die unter der unzulässigen Zusammenarbeit leiden. Das ist auch völlig in Ordnung so, denn Korruption ist ein Wettbewerbsdelikt. Wenn keiner etwas dagegen tut, fällt immer einer hinten runter.

up|unternehmen praxis: Wie weit verbreitet ist Korruption in der Heilmittelbranche, zum Beispiel im Vergleich mit anderen Bereichen, etwa der Versorgung mit Hilfsmitteln?

MICHELS: Da es keine offiziellen Erhebungen oder Statistiken dazu gibt, ist es schwer, hier Zahlen zu nennen. Aber zum Thema unzulässige Zusammenarbeit insgesamt bekommen wir aus der Branche, also von den Leistungserbringern selbst, immer wieder die Rückmeldung, dass mindestens die Hälfte so arbeite. Und das ist schon verdammt viel.

up|unternehmen praxis:Wenn das Problem so verbreitet und auch bekannt ist, wie kommt es dann, dass es nicht effizienter bekämpft wird?

MICHELS: Häufig sind die Informationen, die wir zu finanziellen Vorteilen und Geldflüssen erhalten, wenig konkret. Wir haben nur die Aussage, da werden Patienten zu einem bestimmten Leistungserbringer geschleust. Jeder weiß natürlich, dass das passiert, um da Geld abzugreifen. Wenn ich dafür aber keine greifbaren Beweise habe, können Ermittlungsbehörden das als Vermutung abtun. Und bei Vermutungen, das stimmt auch, müssen sie nicht ermitteln. Sie brauchen wenigstens ein handfestes Indiz. Hier ist dann die Frage, was als solches akzeptiert wird und was nicht.

up|unternehmen praxis:Damit endet die Strafverfolgung?

MICHELS: Es könnte und müsste dann wegen Betrugs weiter ermittelt werden. Doch das weiß nicht jede Ermittlungsbehörde, beziehungsweise bis vor kurzem haben sie bei unzulässiger Zusammenarbeit nicht wegen Betrugs ermittelt. Deshalb ist ein kürzlich ergangenes Urteil sehr wichtig: Hier wurde der Betreiber eines Sanitätshauses zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nicht wegen Korruption, sondern wegen Betrugs, denn das Antikorruptionsgesetz gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das ist aber auch egal. Die Strafandrohungen sind die gleichen, nur der Straftatbestand ist ein anderer. Das Urteil war schon eine kleine Sensation. Denn es ist das erste, das Betrug angewendet hat bei einer solchen unzulässigen Zusammenarbeit, also Verordnungen gegen Geld.

up|unternehmen praxis: Wenn das Urteil eine kleine Sensation war, wie sehen dann üblicherweise die Strafen aus?

MICHELS: Wenn ermittelt wird und man auch etwas findet, kommt es häufig zur Einstellung des Verfahrens mit einer Geldauflage. Das ist in der Wirtschaftskriminalität oft der Fall, wenn die Leute vorher nicht in Erscheinung getreten sind. Bei unzulässiger Zusammenarbeit gibt es diese Fälle auch, aber weniger. Das hängt vom Bundesland ab. In einigen wird es gar nicht aufgegriffen, zumindest bisher. Wir erhoffen uns von dem bereits erwähnten Urteil, dass sich daran nun etwas ändert.

„Man müsste im Gesundheitsbereich die Ermittlungsverfahren pushen, sodass man sieht, es tut sich etwas, dass sich rumspricht, das ist kein Kavaliersdelikt.“

up|unternehmen praxis: Was müsste sich ändern, um Korruption wirkungsvoller zu bekämpfen?

MICHELS: Wenn die Ermittlungsbehörden in die Lage versetzt würden, sich intensiver mit diesem Thema zu befassen, würde das schon einen Unterschied machen. Die sitzen ja nicht rum und haben nichts zu tun, sondern sind auch bis zur Halskrause dicht mit Arbeit und müssen Prioritäten setzen. Man müsste im Gesundheitsbereich die Ermittlungsverfahren pushen, sodass man sieht, es tut sich etwas, dass sich rumspricht, das ist kein Kavaliersdelikt. Es wird ermittelt und bestraft – und zwar nicht nur mit Vertragsstrafen, sondern auch strafrechtlich geahndet, so wie es das Gesetz auch hergibt. Dann würde das eine Menge bringen.

Dazu müsste man aber spezielle Ermittlungsstellen einrichten, die nicht nur Ahnung von Strafrecht, sondern auch von Sozialrecht haben. Denn das ist unbedingt nötig. Bei der Polizei wie auch bei der Staatsanwaltschaft braucht man Leute, die das sozialrechtliche Hintergrundwissen haben und entsprechend geschult sind, um das ganze System zu verstehen und zu wissen, warum die Bestimmungen da so sind, wie sie sind und was dahintersteckt.

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