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Therapie-Sternstunde

Das Erwachen: Eine Sternstunde von Beate Buchner-Schröder
Meine Geschichte beginnt in einem kleinen südfranzösischen Ort Mitte der 90er Jahre. Ich habe dort damals einige Zeit in einer Physiopraxis gearbeitet, nachdem ich zuvor meine eigenen Praxen in Deutschland verkauft hatte. Ein lang gehegter, realisierter Traum. In der Physiopraxis wurde alles Mögliche angeboten: orthopädische Behandlungen, chirurgische, neurologische – auch Lymphdrainage war dabei und Osteopathie. Bis dato hatte ich keinerlei Erfahrung mit Letzterer, und was ich dann infolge einer osteopathischen Behandlung erleben durfte, beeindruckt mich bis heute.

Eines Tages wurde ein fünfjähriges Mädchen als Patientin aufgenommen

Bei ihrer Geburt hatte sie Sauerstoffmangel erlitten und danach noch eine Hirnhautentzündung durchgestanden. Sie war kognitiv und motorisch stark eingeschränkt. Ihr Muskeltonus war viel zu fest; sie lief ganz steif, fast robotermäßig. Rotation war gar nicht möglich.

Die Eltern wohnten mit dem Mädchen im Dorf in unmittelbarer Nähe zu den Großeltern. Sie hatten die Einstellung, dass das Kind „halt behindert“ sei, dass man da nichts machen könne. Vielleicht hatten sie nie die richtige Anlaufstelle gehabt und waren nicht an Informationen über Fördermöglichkeiten gelangt. In einen Kindergarten ging das Mädchen jedenfalls nicht. Den Eltern war einzig wichtig, dass die Kleine allein zu ihren Großeltern über den Hof laufen können sollte. Deshalb kamen sie in die Praxis.

Mein Chef begann, das Mädchen auch osteopathisch zu behandeln

Nach der ersten Anwendung war sie schon etwas lockerer im Gangbild. Zumindest für uns Therapeuten war sichtbar, dass die Bewegungen fließender waren und auch ihr Gesicht weicher. Nach der zweiten Behandlung aber war es für mich wie eine Erkenntnis: Die Mutter nutzte die Behandlungszeit immer für kurze Besorgungen, auch dieses Mal war sie unterwegs gewesen und kam nun zurück in die Praxis. Das Mädchen lief auf die Mutter zu, mit einem deutlich weicheren Gang und einem viel weicheren Gesichtsausdruck als zuvor. Bei der Mutter ging ein Strahlen und Leuchten über das Gesicht, und sie nahm das Kind so liebevoll in den Arm, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte.

Dieses Gesicht der Mutter habe ich bis heute nicht vergessen

Noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an die Reaktion der Mutter denke und an das, was dieser Moment alles ausgelöst hat.

Die Eltern fingen danach an, sich über Fördermöglichkeiten zu informieren. Sie wechselten den Arzt und schafften es nach einem Gespräch mit der Kindergartenleitung, dass das Mädchen an immerhin zwei Tagen für einige Stunden in den Kindergarten gehen konnte (einen integrativen Kindergarten gab es damals im Dorf nicht). Gemeinsam mit den Eltern schaute ich mir die Örtlichkeit an und entwickelte Ideen, wie alles möglichst stressfrei für die Kleine ablaufen könnte. Auch an anderer Stelle waren die Eltern auf einmal aktiv – vorher hatten sie das Mädchen immer nur abgeliefert und sich nicht dafür interessiert, was sie selbst tun könnten.

Als hätte man einen Schalter umgelegt

Dieses „Erwachen“ der Eltern, dass sie sich plötzlich nicht mehr mit der Situation abfanden, sondern selbst aktiv wurden – das war so ein tolles Erlebnis. Am Ende ist dieses Kind in eine Förderschule eingeschult worden. Bis heute ist dies meine Therapie-Sternstunde.

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