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„Tränen dienen dazu, eine Verbindung mit anderen herzustellen“ – Wie gehe ich mit weinenden Menschen um?

Interview mit Prof. Dr. Ad Vingerhoets, Universität Tilburg, Niederlande

Wenn erwachsene Menschen weinen, löst das in ihrem Umfeld verschiedene Reaktionen aus. Mitgefühl ist eines davon. Viele reagieren aber auch mit Verunsicherung und sind überfordert. Das gilt besonders, wenn uns die Tränen im Arbeitsumfeld begegnen, etwa, wenn Patienten oder Mitarbeiter so ihre Gefühle zeigen. Denn in der Regel sind Tränen etwas sehr Privates. Doch warum weinen Menschen und was drücken sie mit ihren Tränen aus? Dazu haben wir Prof. Dr. Ad Vingerhoets befragt. Der Niederländer forscht seit vielen Jahren zu diesem Thema.
© iStock: Alessandro de Leo,Ad Vingerhoets

Herr Prof. Vingerhoets, warum weinen wir? Und welche Gefühle drücken wir mit den Tränen aus?

VINGERHOETS: Unsere Haupthypothese ist, dass Tränen dazu dienen, eine Verbindung mit anderen Menschen herzustellen. Sie drücken also nicht hauptsächlich Traurigkeit aus, sondern ganz verschiedene Gefühlszustände, etwa Stärke/Hilfslosigkeit und andere, die das Verlangen nach einer Bindung und Beziehung fördern.

Manchen Menschen weinen nicht nur, wenn sie traurig sind. Wie unterscheiden sich Freudentränen von anderen Formen des Weinens?

VINGERHOETS: Einige Theoretiker bezweifeln, dass es wirklich so etwas wie Freudentränen gibt. Sie gehen davon aus, dass es nur so scheint, als seien diese Tränen mit positiven Gefühlen verbunden. Tatsächlich steckt aber etwas anderes dahinter. Ein Beispiel: Die niederländische Dressurreiterin Anky van Grunsven hat viel geweint, als ihr bei den Olympischen Spielen in Athen die Goldmedaille überreicht wurde. Danach gefragt, ob es sich dabei um Freudentränen gehandelt hat, erklärte sie, dass sie die Tränen vergossen hat, weil ein paar Monate vorher ihr Vater gestorben war und er bei diesem besonderen Moment in ihrem Leben nicht dabei sein konnte.

Ein anderes Beispiel ist die niederländische Radrennfahrerin Leontien van Moorsel. Sie vergoss reichlich Tränen als sie ihre Goldmedaille gewann, nachdem sie ihre Magersucht-Erkrankung überwunden hatte und in den Sport zurückgekehrt war. Ich denke also nicht, dass beispielsweise jemand wie Usain Bolt Tränen vergießen würde, wenn er eine Goldmedaille gewinnt. Es sei denn, dem geht ein trauriges Ereignis in der Familie voraus oder er müsste sich nach einer schweren Verletzung in den Sport zurückkämpfen.

Bei einem Wiedersehen beweinen wir die vielen Momente, in denen wir einander vermisst haben, bei einer Hochzeit die damit verbundene Trennung von den Eltern, usw.

Welche Reaktionen erwarten weinende Menschen von ihrer Umwelt? Was löst es in uns selbst aus, wenn wir jemanden Tränen vergießen sehen?

VINGERHOETS: Weinende Menschen erhoffen sich, so Trost und Unterstützung zu bekommen. Es ist aber auch wichtig zu wissen, dass wir diese Unterstützung hauptsächlich von Personen erwarten, mit denen wir eng verbunden sind, insbesondere unseren Eltern und/oder Partnern, aber auch von anderen Menschen, die uns nahestehen, oder von Gott. Wir weinen nicht gern in der Gegenwart Fremder, es sei denn es gibt einen gemeinsamen Anlass, wie eine Beerdigung, eine Gedenkfeier oder ähnliches.

Jemanden weinen zu sehen, erleichtert es uns, empathisch zu sein. Wir sind eher bereit, Hilfe und Unterstützung anzubieten.

Manche Menschen setzten Tränen ein, um ihr Umfeld emotional zu erpressen. Wie können wir das erkennen und wie sollten wir darauf reagieren?

VINGERHOETS: Es ist nicht einfach, falsche Tränen oder Krokodilstränen zu erkennen. Denn Menschen, die diese einsetzen, wie etwa Schauspieler, tun dies, indem sie an etwas Trauriges denken. So erleben sie tatsächlich starke Gefühle, auch wenn diese Emotionen nicht zur aktuellen Situation passen.

Es ist schwierig, eine allgemeine Empfehlung zu geben, wie man auf emotionale Erpressung reagiert. Das hängt auch von der jeweiligen Situation ab und davon, in welchem Verhältnis Weinende und Beobachter zueinander stehen. Allgemein wäre ich dazu geneigt, zu empfehlen, dass man dem Gegenüber klar macht, dass man die Echtheit der Tränen anzweifelt und explizit fragt, warum die Person weint und was er oder sie mit den Tränen erreichen möchte.

Im Praxisalltag geschieht es hin und wieder, dass Therapeuten bei ihrer Arbeit mit weinenden Patienten konfrontiert werden. Wie sollten sie dann reagieren? Und was sollten sie in solchen Situationen vermeiden?

VINGERHOETS: Eine schwierige Frage. Ich bin kein Arzt und kenne mich mit solchen Situationen nicht aus. Ich würde aber sagen, dass man die Patienten nach dem Grund für die Tränen fragen und Hilfe anbieten sollte. Therapeuten sollten aber auch vermeiden, dass das Weinen die Behandlung zu sehr beeinträchtigt.

Die Tränen zu ignorieren, ist keine gute Lösung. Denn diese Menschen möchten eine Verbindung zu Ihnen herstellen. Betrachten Sie die Tränen als Signal in diese Richtung. Psychotherapeuten gehen im Allgemeinen übrigens davon aus, dass Weinen einen positiven Effekt auf die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten hat. Tränen sind in der Regel ein ehrliches Signal!

Was sollte der Praxischef tun, wenn Mitarbeiter aufgrund einer privaten Angelegenheit, etwa dem Tod eines geliebten Menschen, einer schweren Krankheit oder familiären Problemen weinen?

VINGERHOETS: Wenn ein Mitarbeiter wegen einer (ernstzunehmenden) privaten Angelegenheit weint, kann man erwarten, dass sein Umfeld mit Respekt und Verständnis reagiert. Gleichzeitig erfordert der Umgang mit Patienten professionelles Verhalten. Therapeuten sollten nicht vor ihren Patienten weinen. Denn das kann dazu führen, dass sich die Rollen umkehren. Dann kümmern sich nicht mehr die Therapeuten um die Patienten, sondern umgekehrt. Mitarbeiter müssen darum die Tränen zurückhalten können. Ist das nicht möglich, sollten die Weinenden eine Auszeit bekommen, um sich wieder zu beruhigen.

Wie sollten sich Vorgesetze verhalten, wenn der Grund für die Tränen mit der Arbeit zu tun hat?

VINGERHOETS: Wenn das Weinen arbeitsbezogene Gründe hat, ist die Sache komplizierter. Andere Personen, Kollegen eingeschlossen, scheinen dann in der Regel weniger verständnisvoll und erwarten eine professionellere Einstellung. Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit weinen, schaden damit möglicherweise auch ihrem Ansehen. Denn ein solches Verhalten wird schnell mit Schwäche und mangelnder Kompetenz verbunden. Es wird in Zweifel gezogen, ob die Person für diese Stelle wirklich geeignet ist.

Welche Fehler machen Chefs häufig im Umgang mit weinenden Mitarbeitern?

VINGERHOETS: Ich kann nicht sagen, was die häufigsten Fehler von Chefs in solchen Situationen sind. Es ist aber immer eine heikle Balance zwischen Verständnis zeigen und vermeiden, dass das Weinen dem Unternehmen oder den Betroffenen selbst schadet.

Wie sollten Praxischefs mit ihren eigenen Gefühlen umgehen? Ist es besser, auch einmal vor ihren Angestellten zu weinen oder sollten sie ihre Tränen unter allen Umständen unterdrücken?

VINGERHOETS: Lassen Sie mich das an einem Beispiel veranschaulichen: In einem Interview hat der berühmte General Norman Schwarzkopf einmal erklärt, dass er manchmal gemeinsam mit seinen Männern geweint hat. Natürlich darf er so etwas nicht tun, bevor er seine Truppen an die Front schickt. In solchen Situationen muss er als Vorgesetzter Zuversicht und Stärke ausstrahlen. Wenn am Weihnachtsabend jedoch einige Soldaten weinen, weil sie ihre Familien vermissen, ist es kein Problem, mit ihnen zu weinen, um zu zeigen, dass man einer von ihnen ist und ihren Schmerz mitfühlt.

Auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat bei verschiedenen Anlässen geweint und das hatte überhaupt keine negativen Auswirkungen darauf, wie die Menschen ihn wahrgenommen haben – mit Ausnahme seiner ärgsten Widersacher, die ihn als Heulsuse betrachteten.

Hillary Clinton weinte ebenfalls einmal während der vergangenen Vorwahlen. Die Reaktionen darauf hingen davon ab, ob die jeweiligen Personen für oder gegen Hillary waren. Aussagen der Gegner: Das ist nur Manipulation und emotionale Erpressung. Und/oder: Das zeigt, dass sie für diesen Job nicht geeignet ist. Es wäre eine große Schande für Amerika so eine schwache Person an der Spitze zu haben. Befürworter: Endlich haben wir die Chance auf einen echten Menschen im Amt des Präsidenten.

Mehr zur Forschung rund um das Thema Weinen finden Sie unter anderem auch auf der Website von Professor Vingerhoets: www.advingerhoets.com

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