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Schwerpunkt Placebo-Effekt: Mehr Sein als Schein?

Der Placebo-Effekt ist mehr als nur eine Scheintherapie, mit der Forscher in medizinischen Studien ihre Behandlungen überprüfen. Er beschreibt die psychosozialen Wirkungen einer Therapie – also wie Erwartungen, Lernprozesse und Empathie den Heilungsprozess beeinflussen. Therapeuten können diese Effekte gezielt beeinflussen.
© iStock: alvarez

Schwerpunkt Placebo-Effekt: Teil 1 von 3

„Auf die Schnelle würde ich sagen: Physiotherapie wirkt zu ungefähr fünfzig Prozent durch Placebo“, sagt Prof. Dr. Hannu Luomajoki, der das Master-Programm muskoskelettale Physiotherapie an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften leitet. Dieser Satz ist für viele Therapeuten vermutlich schwer zu verdauen. Die Hälfte meiner Therapie soll Placebo sein? Bilden sich meine Patienten den Therapieerfolg also teilweise nur ein? Sind manche Behandlungen so etwas wie die Kontrollgruppe einer Studie, in der Forscher aus Vergleichsgründen Zuckerkügelchen verabreichen? Wirkt das, was ich da tue, vielleicht am Ende gar nicht wirklich?

Kümmern unterstützt den Heilungsprozess

Genau das ist es nicht, was Luomajoki meint. Vielmehr zeige die Forschung heute, dass bei jeder Behandlung Aspekte eine Rolle spielen, die wir als Placebo-Effekte bezeichnen können. Mitgefühl und Aufmerksamkeit können sich positiv auf Heilungsprozesse auswirken. Alleine schon das Gefühl, dass sich jemand kümmert, scheint den meisten Menschen zu helfen. Das erklärt, warum in Studien sogar Placebo-Operationen am Knie genauso gute Ergebnisse erzielen können wie bestimmte Eingriffe.

Placebo-Effekte sind also nichts Negatives und nichts, was aus der Therapie verschwinden muss. Vielmehr sind sie ein mächtiger Nebeneffekt, der zusätzlich zu den spezifischen Wirkungen der Therapie auftritt und den Therapeuten bewusst steuern können.

Was ist das eigentlich, Placebo?

Der Begriff Placebo beschreibt streng genommen eine Scheintherapie, zum Beispiel ein Medikament, das keine Wirkstoffe enthält. Sprechen wir aber vom Placebo-Effekt, lässt sich das deutlich weiter fassen. Gängigen Definitionen zufolge steht er für die positiven Wirkungen einer Therapie, die nicht auf deren spezifische Wirkung zurückgehen.

Ein Beispiel: Therapeut A und Therapeut B behandeln nacheinander denselben Patienten mit derselben Technik. Doch Therapeut B wirkt auf den Patienten sympathischer und kompetenter. Er hört besser zu, der Behandelte fühlt sich wohler und ist zuversichtlicher gestimmt. Seine Beschwerden gehen daraufhin merkbar stärker zurück als nach der Behandlung bei Therapeut A. In diesem Fall könnten Placebo-Effekte dafür verantwortlich sein, dass Therapeut B mehr Erfolg hatte.

Schmerzunterdrückung war ein Vorteil in der Evolution

Warum solche Effekte eintreten, ist längst kein Mysterium mehr. Wie sie funktionieren und wo sie herkommen, ist bereits ziemlich gut erforscht. Laut Prof. Dr. Thomas Weiß, Schmerzforscher an der Universität Jena, sei vor allem ihre Wirkung auf neurobiologischer Ebene im Bereich von Schmerzen gut untersucht. „Unser körpereigenes Schmerzunterdrückungssystem arbeitet zum Beispiel, wenn wir in Gefahr sind“, erklärt Weiß. Das sei in der Evolution extrem wichtig gewesen.

„Wenn unsere Vorfahren zum Beispiel als Jäger ein verwundetes Tier verfolgt haben, ging es darum, die Gemeinschaft für mehrere Tage mit Fleisch zu versorgen. Wir konnten dann nicht beim ersten Rosendorn im Fuß aufhören, dem Tier nachzugehen.“ Dasselbe habe gegolten, wenn wir selbst verwundet waren und der Schmerz uns nicht davon abhalten durfte, vor einem Raubtier in den Schutz der Gruppe zurück zu fliehen. Menschen mit einem solchen System hatten also einen klaren Vorteil – und setzten sich durch.

Opioide und Glückshormone regulieren Schmerzen

Heute wissen Forscher, dass das Schmerzunterdrückungssystem mit endogenen Opioiden arbeitet, also mit körpereigenen Substanzen, die wie Schmerzmittel wirken. Besser gesagt ist es anders herum: Starke Schmerzmittel wie Morphin – ebenfalls ein Opioid – wirken deshalb so gut, weil sie den Mechanismus nachahmen, mit dem der Körper selbst Schmerzen unterdrückt.

Auch das Belohnungssystem mit seinen Glückshormonen spielt in die Wirkung mit hinein. „Am wichtigsten sind neben den endogenen Opioiden die Hormone Serotonin und Dopamin“, erläutert Luomajoki. „Sie aktivieren die endogene Analgesiebahn – das ist eine absteigende Schmerzmodulationsbahn vom Rückenmark zu den Nerven, an denen die Schmerzsignale ankommen.“ Die Hormone könnten die Schmerzsignale dort hemmen, bevor sie im Gehirn ankommen, wo wir sie wahrnehmen würden.

Luomajoki zufolge findet zudem eine Wirkung auf der kognitiven Ebene statt. „Wenn jemand Angst hat, verunsichert ist, dann wirkt es natürlich positiv, wenn wir die Angst wegnehmen“, sagt er. „Es hilft, wenn wir auf diese Weise ungünstige schmerzverstärkende Hormone inhibieren und die positiven verstärken.“

Erwartungen können Schmerzen unterdrücken

„Das ganze System arbeitet aber nicht nur bei einer akuten Verletzung, sondern auch, wenn wir solche Situationen erwarten“, sagt Weiß. Schon die Erwartung von Schmerzen könne also die Schmerzunterdrückung aktivieren. Erwartungen und soziale Interaktionen zwischen Therapeut und Patient spielen in jeder Therapie eine ganze wesentlich Rolle“, fügt Weiß hinzu. „Sie sind immer dabei, das ist nicht trennbar.“

Ein körpereigener Mechanismus, der mit unseren Ängsten und Erwartungen arbeitet, kann also Schmerzen unterdrücken. Ähnliche Prozesse laufen natürlich auch bei anderen Beschwerden, Erkrankungen, Funktionsstörungen und deren Behandlung ab. Am Beispiel der Schmerzen sehen wir aber, wie komplex verschiedene Einflüsse auch innerhalb unseres Körpers darauf einwirken, wie wir unseren Gesundheitszustand wahrnehmen.

Schein-OPs mit überraschend guten Ergebnissen

Studien zeigen, dass Placebo-Effekte offenbar noch mehr können, als nur die Wahrnehmung steuern. Sie tragen teilweise tatsächlich zur Heilung bei. So gab es in den letzten Jahren immer wieder Berichte über „Placebo-Chirurgie“. Dabei fügen Ärzte Patienten nur eine Schnittwunde zu, die die OP vortäuscht, oder führen die OP nur zum Teil durch. Die Placebo-Therapien fungierten dabei als Kontrollgruppen für Studien, die die eigentlichen Eingriffe untersuchen – und die teilweise ähnliche Ergebnisse lieferten wie die richtigen Eingriffe

Dementsprechend war das Fazit der Forscher meist: Die untersuchte Methode sei nutzlos – so etwa bei einer Studie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zur Knie-Arthroskopie. An anderer Stelle überlegen Wissenschaftler, ob Placebo-Behandlungen nicht sogar sinnvoll sein könnten – etwa im Anschluss an eine Untersuchung finnischer Forscher, in der eine Schein-OP des Meniskus vergleichbare Ergebnisse lieferte wie der tatsächliche Eingriff.

Wirkungsstudien zu Heilmitteln sind knifflig

Derzeit entstehen solche Forschungsergebnisse also nach wie vor eher als Nebeneffekt von Studien, in denen Placebo zur Kontrolle eingesetzt wird. Die Effekte selbst wissenschaftlich zu ergründen sei laut Weiß schwierig. „Wirkungsstudien brauchen eine hohe Standardisierung – das ist zum Beispiel in der Physiotherapie schwierig und in der Ergotherapie nochmal einen Tacken kniffliger“, erklärt der Schmerzforscher. Die Variabilität bei den Patienten sei sehr hoch, sprich: Jeder Patient hat andere Probleme und Voraussetzungen, jede Therapie mit ihren vielen Sitzungen läuft anders. „Es ist extrem schwer, Studien und die dazugehörigen Kontrollsituationen zu gestalten. Deswegen neigen Forscher manchmal dazu, zu sagen: Das ist nicht objektivierbar“, berichtet Weiß.

Dennoch: Dass Placebo-Effekte (oder eben psychosoziale Effekte) wirken, ist unumstritten – dass es sich lohnt, sie zugunsten der Therapieergebnisse zu steuern, ebenso. Spezifische Wirkungen liegen natürlich trotzdem bei den meisten Heilmittelbehandlungen vor. Sie lassen sich vermutlich häufig durch das richtige psychosoziale Drumherum noch verstärken.


Lesen Sie hier weiter:
Teil 2: Placebo- und Nocebo-Effekte in der Heilmitteltherapie
Teil 3: Wie können Therapeuten Placebo-Effekte steuern?


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