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Wie Worte und Wertschätzung überzeugen können

In Essener Praxis kehren Mitarbeiterinnen früher aus Elternzeit zurück
In Zeiten fehlender Fachkräfte ist es für jeden Praxisinhaber schwierig, gute Mitarbeiter zu finden. Daher lohnt es umso mehr, sich um das bestehende Team zu kümmern und wertvolle Mitarbeiterinnen in der Elternzeit zu überzeugen, schon früher in den Job zurückzukehren. Wertschätzung zu vermitteln und individuelle Arbeitszeitmodelle anzubieten, sind für die Essener Ergotherapeutin Jessica Günther der Schlüssel zur erfolgreichen Rückkehr in die Praxis.
© iStock: fizkes

Das zehnjährige Praxisjubiläum war für Jessica Günther der Anlass, mal über den Tellerrand ihrer persönlichen Lebenssituation zu schauen. Gemeinsam mit ihrer Praxismitinhaberin Katja Schmidinger machten sie sich als Unternehmerinnen, die vorwiegend Frauen beschäftigen, Gedanken über das Thema Frauen und Finanzen. Sie erkundigten sich bei Freunden und Kollegen und stellten fest, dass sich viele zu wenig um die eigene Rente kümmerten. Bei ihren weiteren Recherchen stießen sie auf den Blog „Madame Moneypenny“, der seit 2016 Frauen auf ihrem Weg in die finanzielle Unabhängigkeit begleiten will. Sie erfuhren, dass rund 75 Prozent der Frauen zwischen 35 und 50 Jahren später die Altersarmut drohe. Das liege vor allem daran, dass sie sich nicht selber mit ihren Finanzen auseinandersetzen.

Thema Rente im Blickfeld

Den beiden Praxisinhaberinnen wurde klar, dass gerade in ihrer Berufsgruppe Frauen oft sehr wenige bis keine Chancen auf eine vollwertige Rente haben – vor allem oft dann nicht, wenn sie lange in Elternzeit gehen. „Aufgrund dieser Erkenntnis sehen wir es als Frauen, Arbeitgeberinnen und Mütter als unsere Verpflichtung an, unsere Mitarbeiterinnen diesbezüglich zu informieren und ihnen flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten“, so Jessica Günther.

Persönliches Gespräch in der Schwangerschaft

Daher suchen sie bereits in der Schwangerschaft das Gespräch mit der werdenden Mutter. Sie teilen ihren Kolleginnen ihre Wertschätzung mit und wie unerlässlich sie für den Betrieb sind. „Ich rede mit ihnen, was sie von ihrer Rente zu erwarten haben (oder auch nicht erwarten dürfen). Und ich sage ihnen, dass sie arbeiten DÜRFEN.“ Denn: Laut § 15 Abs. 4 Satz 1 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) erlaubt der Gesetzgeber für Eltern in Elternzeit eine wöchentliche Arbeitszeit von bis zu 30 Stunden. „Wir hören uns ihre Sorgen und Wünsche an, und wir versichern ihnen, ein passendes flexibles Arbeitszeitmodell zu finden.“

Start mit fünf Stunden in der Woche

Mit Erfolg: Eine ihrer leitenden Ergotherapeutinnen kehrte direkt nach dem Mutterschutz in die Praxis zurück – obwohl ihr Baby eine Frühgeburt war. „Sie arbeitet an zwei Tagen fünf Stunden in der Woche“, erläutert die Praxisinhaberin, „im Sommer will sie auf 20 Stunden erhöhen und im Herbst wieder Vollzeit arbeiten.“

Jede Mitarbeiterin ist wertvoll

Für Jessica Günther und ihre Praxispartnerin ist jede Mitarbeiterin wertvoll, und sie wollen auf keine verzichten, die aufgrund ihrer Elternzeit temporär aus dem Team ausscheidet. Sie bleiben in Kontakt, schicken Glückwünsche und eine kleine Aufmerksamkeit zur Geburt des Kindes. Spätestens sechs Monate vor dem vereinbarten Ende der Elternzeit laden sie sie zu einem Gespräch ein, indem sie der jungen Mutter aufzeigen, dass der Therapeutenberuf ein flexibles Arbeiten ermögliche. „Ich freue mich schon über fünf Stunden pro Woche“, strahlt die Praxisinhaberin, „denn mal ehrlich, besser drei Rückkehrerinnen aus der Elternzeit, die meinen Betrieb kennen, als eine hoffnungslose Stellenanzeige mehr im Internet.“

Nur gute Erfahrungen mit Rückkehrerinnen

Sie hat bisher nur gute Erfahrungen mit den vorzeitigen Rückkehrerinnen gemacht. „Sie sind meist unglaublich motiviert, die Arbeit stellt für sie keinen Stressfaktor, sondern einen Erholungsfaktor dar!“ Es sei kein Problem, erst um neun Uhr anzufangen, weil das Kind vorher in den Kindergarten gebracht werden muss. „Es lassen sich individuelle Lösungen finden und als Arbeitgeberin stehst du wie eine Superheldin da, wenn du ihr das alles unkompliziert ermöglichst. Sie wird dir gegenüber eine engagierte und loyale Mitarbeiterin sein!“ Derzeit sind von den insgesamt 20 Mitarbeitern in den beiden Praxen drei in Elternzeit – zwei kehren demnächst an ihren Arbeitsplatz zurück.

Mit flexiblem Arbeitszeitmodell in Stellenanzeigen werben

Die Praxischefinnen sind offen für jedes Arbeitszeitmodell, spezielle Betreuungsangebote für Kinder bieten sie allerdings nicht an. „Wir schaffen es, die Arbeit der jungen Mütter um die Betreuung ihrer Kinder herum zu organisieren.“ Bisher spielt das persönliche Gespräch die entscheidende Rolle, aber sie überlegen derzeit, mit diesem Modell auch in Stellenanzeigen und auf Facebook zu werben. Aktuell aber könne sie sich noch glücklich schätzen, dass in ihrer Praxis noch Initiativbewerbungen eingehen.

Entscheidend ist die Kommunikation

Bei aller Flexibilität steht für die Praxisinhaberin das Wohl der Patienten an erster Stelle. Die Patienten dürfen unter den individuellen Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiterinnen nicht leiden, aber auch dies ließe sich organisatorisch regeln. „Und natürlich müssen auch die Finanzen stimmen, sodass wir uns diesen Luxus leisten können.“ Sie ist überzeugt: Entscheidend sei die Kommunikation – nicht nur zwischen ihr und ihrer Mitarbeiterin, sondern auch zwischen dem Patienten und seinem Arbeitgeber. Wenn der Patient seinem Chef deutlich vermitteln kann, dass die Behandlung nur während der Arbeitszeit möglich ist, wird dieser sich bestimmt verständlich zeigen, ist sich Jessica Günther sicher.

Die Flexibilität, die die Praxischefin ihren Mitarbeitern entgegen bringt, erwartet sie auf der anderen Seite allerdings auch von ihrem Team. Beispiel: Fortbildungen. „Es muss die Frage erlaubt sein, welchen Mehrwert der Kurs für meine Praxis hat und ob ich mir das leisten kann. Und ob man aus dem Gelernten vielleicht eine Selbstzahlerleistung entwickeln kann – auch das ist eine Frage der Kommunikation.“

Neues Coaching-Projekt „Therapeutin erfolgreich“

Die Gespräche mit ihren Mitarbeiterinnen und ihr Netzwerk mit anderen Frauen haben die Praxisinhaberinnen zu einem weiteren Projekt geführt: Vor kurzem haben die beiden die Coaching-Firma „TherapeutinErfolgreich“ gegründet und beraten Kolleginnen bei speziellen Problemen. Die Website „TherapeutinErfolgreich“ befindet sich aktuell im Aufbau, die ersten Kunden sind im Rahmen ihres Netzwerkes an sie herangetreten.

Da gab es beispielsweise eine Therapeutin aus dem Raum Aachen, die mit ihrer Praxis expandieren will. „Wir ermitteln mit ihr gemeinsam den Status Quo und finden individuelle Lösungen“, erklärt Jessica Günther. Eine andere Kundin möchte sich von ihren Partnern trennen und weiß nicht, wie sie das organisieren soll. „Ein spannendes Projekt, das vermutlich über sechs Monate laufen wird“, sagt die Praxisinhaberin und freut sich über die Aussicht, ein mögliches zweites Standbein aufzubauen – auf jeden Fall ist es ein Blick über den Tellerrand ihrer persönlichen Lebenssituation.

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