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Let’s talk about: Zertifikate abschaffen

Warum sprechen wir so wenig über das Zertifikatswesen in der Physiotherapie?
Ist es ein Tabuthema? Finden wir das System gut, so wie es ist? Aus meiner Sicht wird es allerhöchste Zeit, sich damit zu befassen und offen darüber zu diskutieren. Wir debattieren über den Direktzugang, über Vergütungserhöhungen und über die Akademisierung, aber das Thema der Zertifikate, das vielen praktizierenden Physiotherapeuten täglich einen Strich durch die Rechnung macht, bleibt oft unberührt. Es wird Zeit, dass sich daran was ändert.
© Anna Zwerenz

Im Moment kann ein Physiotherapeut nach seiner dreijährigen Ausbildung, die mit dem Staatsexamen abschießt, laut GKV-HIS circa 50 Prozent der Leistungen, die verordnet werden, nicht abgeben. Aber sollte eine Ausbildung nicht den Zweck erfüllen, alle Kompetenzen zu vermitteln, die zur Erbringung der physiotherapeutischen Leistungen für GKV-Patienten gefordert werden? Andernfalls stellt sich die Frage, ob die Ausbildung nicht vielleicht versäumt, den Therapeuten die notwenige Handlungsfähigkeit im Berufsalltag mitzugeben.

Eine grundlegende Überarbeitung der Ausbildungsordnung findet derzeit statt. Ist also nicht jetzt die beste Gelegenheit, jetzt den Schritt zu wagen und sich über die Integration der Zertifikate in die Ausbildung Gedanken zu machen, oder sie vielleicht sogar ganz abzuschaffen?

Ein guter Physiotherapeut versucht die bestmögliche Leistung für seinen Patienten zu erbringen, angelehnt an eine klare Zielformulierung, die er mit dem Patienten entwickelt. Dies geschieht unabhängig von der Angabe des Heilmittels auf der Verordnung. Wenn also ein Patient ein Krankengymnastik-Rezept erhält, aber aus therapeutischer Sicht Manuelle Therapie benötigt, wird er diese Leistung abgeben.

Der Therapeut gibt möglicherweise also eine teurere Leistung ab und bekommt weniger dafür bezahlt. Dieses Geld schenken wir somit der Krankenkasse. Warum eigentlich? Wir müssen dringend davon wegkommen in Schubladen nach bestimmten Techniken zu denken und das abzuarbeiten, was uns der Arzt vorgibt. Wir müssen uns entwickeln zu einem verantwortungsbewussten, professionell arbeitenden Physiotherapeuten, der Therapiemethoden auswählt, nach dem nachweislich größten Effekt auf die Genesung des Patienten, unabhängig von Zertifikaten.

Planungstechnisch und bürokratisch ist das Zertifikatswesen ein Albtraum für die GKV-Praxis.

Habe ich keinen zertifizierten Therapeuten, der die verordnete Leistung abgibt, kann ich diese nicht erbringen, muss also das Rezept abändern lassen oder den Patienten ggf. auf die Warteliste eines zertifizierten Therapeuten setzen. Für Anmeldekräfte, Therapeuten, Ärzte und Patienten eine wahnsinnige Belastungsprobe und Bürokratiehürde. Das ist absolut nicht im Sinne einer bedarfsgerechten Versorgung.

Die Befürchtung eines finanziellen Einbruchs bei Abschaffung der Zertifikate ist nicht gerechtfertigt.

Die Manuelle Therapie ist die einzige Position in der Physiotherapie, die besser als die Krankengymnastik bezahlt wird. Diesen „Gap“ würde man aber gleichzeitig durch den Wegfall schlechter bezahlter Zertifikatspositionen, wie beispielsweise der manuellen Lymphdrainage wieder ausgleichen.

Ebenso unbegründet ist die Argumentation einer erhöhten Qualität durch das Zertifikatswesen. Die Evidenz spricht nicht gerade für die Aktualität einiger Zertifikatsleistungen. Wissenschaftliche Studien ergeben teilweise sogar schlechtere oder gar keine Beweise für die Wirksamkeit bestimmter Leistungen im Zusammenhang mit bestimmten Diagnosen, wie zum Beispiel die manuelle Lymph-drainage nach Knie-TEP.

Wir klagen über zu wenig Attraktivität unseres Berufs und sehen gleichzeitig die großen „Opfer“ die Therapeuten bringen nicht?

Tausende Euro, mehrere hundert Stunden Lernen am Wochenende, all das investieren Physiotherapeuten in Deutschland täglich, nur um alle Positionen des Heilmittelkatalogs abrechnen zu dürfen. Und das obwohl sie vielleicht sogar wissen, dass sie aus wissenschaftlicher Sicht längst überholt sind und keine Berechtigung mehr haben.

Wir müssen es schaffen, die Interessen der Therapeuten zu fördern und vor allem die Fähigkeiten, sich aktuelle wissenschaftliche Studienergebnisse selbst zu erarbeiten. Aktuell setzen wir den Therapeuten den ewig gleichen Brei von vergangenen Tagen vor, doch dieser schmeckt irgendwann eben auch nicht mehr.

Schauen wir uns bei den Kollegen um: Andere Heilmittelerbringer benötigen keine Zertifikats-positionen und sind absolut froh darüber. In der Ergotherapie und Logopädie gibt es diese Hürden nicht, hier dürfen examinierte Ergotherapeuten bzw. Logopäden alle Positionen aus dem Heilmittelkatalog erbringen und zusätzlich sogar noch eine Befundposition abrechnen. Trotzdem leidet die Qualität dieser Berufe keineswegs darunter. Auch hier bilden sich die Therapeuten regelmäßig freiwillig fort und zwar in dem Feld, das ihre Interessen und Stärken fördert.

Liebe Therapeuten, wir müssen manchmal einsehen: Die Welt dreht sich eben weiter.

Nur weil wir uns vor 20 Jahren noch für viel Geld einen VHS-Player gekauft haben, um Filme zu sehen, müssen wir heute eingestehen, dass dieser mittlerweile veraltet ist und es deutlich bessere Möglichkeiten gibt. Bitte hört auf an Zertifikatsleistungen festzuhalten, nur weil sie euch beim Erwerb in der Vergangenheit einmal sehr viel Geld gekostet haben. Und liebe Berufsanfänger, hört auf euch einreden zu lassen, dass ihr nur gute Therapeuten sein könnt, wenn ihr alle Zertifikate erworben habt.

Liebe Verbände, geht mit der Zeit.

Lasst diese Krücke am Bein der Physiotherapie, die die Zertifikatspflicht mit sich bringen endlich los und schafft diese unglaubliche Hürde ab! Ihr seid unsere Interessensvertreter, also hört euch die Interessen der Physiotherapeuten an und ignoriert sie nicht. Die Neuordnung der Berufsgesetze und die Orientierung in Richtung Akademisierung bieten jetzt die optimalen Voraussetzungen dafür. Diese Chance zu versäumen, könnte fatale Auswirkungen auf die Zukunft in der Physiotherapie haben.

Vielleicht wird es mit einer Abschaffung der Zertifikate dann auch endlich was mit der Attraktivität des Berufs und vielleicht ist es dann auch für den ein oder anderen tatsächlich sogar attraktiv in einen Berufsverband einzutreten und für eine Professionalisierung in der Physiotherapie zu kämpfen.

Zum Weiterlesen: Die Kritik an der Physiotherapie – eine wahre Chance

In unserem Buch „Die Kritik an der Physiotherapie – eine wahre Chance“ werfen wir einen kritischen Blick auf wesentliche Entwicklungen aus der Geschichte der Physiotherapie, sowie die derzeitige Bildungs- und Ausbildungssituation in Deutschland, aber auch berufspolitische Aspekte. Weiterhin werden ökonomische Interessen dem Nutzen bezüglich einer klinischen und medizinischen Relevanz gegenübergestellt und damit die Notwendigkeit der Physiotherapie beleuchtet. Besonders wichtig war es uns im Buch ein wesentliches Kapitel der Chance zu widmen, die die Physiotherapie aus unserer Sicht hat. Wir wollten nicht nur kritisieren, sondern auch konstruktive Ideen und Visionen für die Zukunft einfließen lassen.

Die Kritik an der Physiotherapie – eine wahre Chance

Autoren: Andreas Alt und Anna Zwerenz

ISBN: 9781709539626 Erhältlich über Amazon (auch als kindle eBook)

Preis: 31,99€ / eBook: 9,99€

Außerdem gehören diese Artikel zum Themenschwerpunkt Zertifikatsleistungen:

Themenschwerpunkt 3.2020: Zertifikatsleistungen – Risiken und Nebenwirkungen für Praxisinhaber!

Das Märchen von rentablen Zertifikatsbehandlungen: Eine Kosten-Nutzen-Aufstellung mit eindeutigem Ergebnis

Zertifikatspositionen in der Physiotherapie: Wie zeitgemäß ist diese Form der Weiterbildungen? 

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Reinhard Bethke
05.06.2020 17:39

Sehr richtig, was hier erläutert wird. Zertifikate sind unrentabel und… Weiterlesen »

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