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Das Märchen von rentablen Zertifikatsbehandlungen

Eine Kosten-Nutzen-Aufstellung mit eindeutigem Ergebnis
Es war einmal ein Physiotherapeut, der wollte seine Qualifikation verbessern und damit gleichzeitig für eine bessere Bezahlung sorgen. Seine Kollegen verrieten ihm den Schlüssel zum Erfolg: Zertifikatsbehandlungen. Investiere in zusätzliche Qualifikation, so die Kollegen, bestehe eine Prüfung, und schon wirst du deutlich besser bezahlt. So erzählt man sich… Doch wie viel Wahrheit steckt dahinter? Zahlen sagen mehr als tausend Worte, daher haben wir für Sie einmal ganz genau nachgerechnet.
© myillo

„Für bestimmte Maßnahmen der physikalischen Therapie bedarf es spezieller Qualifikation, die über die im Rahmen der Berufsausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten hinausgehen.“ So steht es in § 17 Abs. 2 der Heilmittel-Richtlinie. Diese speziellen Qualifikationen werden in einer Anlage zu den Rahmenempfehlungen, die „Anforderungen an die Abgabe und Abrechnung von besonderen Maßnahmen der Physiotherapie“ genau beschrieben. Um welche es sich dabei genau handelt, lesen Sie hier. Wer in einer dieser Maßnahmen erfolgreich eine Prüfung ablegt, bekommt ein Zertifikat, das Physiotherapeuten dazu berechtigt, die vom Arzt verschriebenen Maßnahmen auszuführen und abzurechnen.

Unterschiedliche Leistungsbeschreibungen

Auf den ersten Blick sind Zertifikatspositionen eine gute Sache – das Honorar für Zertifikatsleistungen ist immer höher als jenes für normale KG-Behandlungen. Sie kann aktuell mit 21,11 Euro abrechnet werden. Für die Zertifikatspositionen sehen die Vergütungen wie folgt aus: Die Manuelle Therapie bringt 25,35 Euro, die Lymphdrainage fängt bei 25,62 Euro an, für KG-ZNS nach Bobath erhält man 33,52 Euro und für KG-ZNS für Kinder sogar 41,90 Euro.

Doch auf den zweiten Blick fällt auf, dass die Leistungsbeschreibungen für die einzelnen Abrechnungsposition unterschiedlich sind. Eine Einheit Lymphdrainage dauert beispielsweise mindestens 30 Minuten, der Mittelwert bei KG-ZNS für Kinder liegt bei 37,5 Minuten. Zum Vergleich: Bei der normalen KG-Behandlung beläuft sich dieser auf 20 Minuten.

Minutenpreis als Rechnungsgrundlage

Wer wissen möchte, ob sich Zusatzbehandlungen wirtschaftlich rentieren, dem bleibt also nichts anderes übrig, als ganz genau nachzurechnen. Sprich: Um Zertifikatsbehandlungen (und auch alle anderen Behandlungen) miteinander vergleichen zu können, müssen Sie den Umsatz pro Minute jeder Leistung berechnen. Wir haben das für Sie einmal übernommen, die aktuellen Minutenpreise sehen wie folgt aus:

  • Manuelle Therapie: 1,27 Euro
  • KG-ZNS (Erwachsene und Kinder): 1,12 Euro
  • Lymphdrainage: 0,85 Euro

Heruntergerechnet auf eine Minute – und im Vergleich zur Vergütung von 1,06 Euro für die normale KG-Behandlung –, stehen die Honorare schon in einem ganz anderen Licht dar.

In Summe ein enormer Umsatzverlust

Eine Leistung liegt sogar unter dem Minutenpreis der normalen KG: die Lymphdrainage. Hier beträgt das Minus 21 Cent pro Minute. Basierend auf den aktuellen Behandlungsstatistiken und Preisen verlieren zertifizierte Lymphdrainagetherapeuten dadurch allein 2020 mindestens 282 Millionen Euro.

Und wie sieht es bei den anderen Positionen aus? Mit einem Zertifikat KG-ZNS für Erwachsene und Kinder können im Vergleich zur normalen KG-Behandlung sechs Cent mehr pro Minute abgerechnet werden. Das ist wiederum, basierend auf aktuellen Statistiken und Preisen sowie im Vergleich zur normalen KG-Behandlung, in diesem Jahr ein Umsatzplus aller KG-ZNS-Behandlungen von rund 53 Millionen Euro. Noch höher ist die Differenz zwischen der Vergütung der normalen KG-Behandlung und der Zertifikationsposition Manuelle Therapie: sie beträgt 21 Cent pro Minute. Bei rund 33 Millionen Behandlungseinheiten à 20 Minuten kommt hier ein zusätzlicher Umsatz von rund 139 Millionen Euro zustande.

Rechnet man die Effekte der Zertifikatsposition für die Physiotherapeuten zusammen, dann kommt man jedoch zu einem ernüchternden Ergebnis: 139 Millionen Euro Umsatz für die Manuelle Therapie und 53 Millionen Euro für die KG-ZNS stehen einem Minus von 282 Million Euro für die Lymphdrainage gegenüber. Per Saldo verlieren alle Physiotherapeuten in Deutschland gemeinsam in diesem Jahr also rund 90 Millionen Euro durch die Zertifikatsbehandlung. Wäre das nicht alleine schon ein guter Grund, die Zertifikatsbehandlungen schnellst möglich abzuschaffen?

Löst das Abschaffen der Zertifikatspositionen alle Probleme?  Nein, so die Meinung von Prof. Dr. Claudia Kemper, Physiotherapeutin und Gesundheitswissenschaften. Sie sieht eine Reform der Aus- und Weiterbildungsordnung als notwendig an. Mehr dazu lesen Sie hier.

Umsatzausfall durch Pflichtausbildungsstunden

Zu den Umsatzverlusten kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu: Die Kosten für die Weiterbildung. Selbst wenn die eigentlichen Lehrgangs- und Prüfungsgebühren der Einfachheit halber außen vor gelassen werden und nur der Umsatzausfall berücksichtigt wird, der zwangsläufig entsteht, weil während des Absolvierens der Pflichtausbildungsstunden nicht behandelt werden kann, kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen:

  • Um das Zertifikat KG-ZNS Kinder zu erwerben, werden 300 Pflichtstunden fällig. Multipliziert man diese Summe mit dem Stundenumsatz, der für eine normaler KG-Behandlung vergütet wird (1,06 Euro), dann entspricht das einem Umsatzausfall von rund 19.000 Euro. Nach bestandener Prüfung kann dann sechs Cent je Behandlungsminute mehr abrechnet werden als bei normaler KG. Das entspricht einem Betrag von 2,32 Euro je KG-ZNS Therapieeinheit. Allein um den durch die Weiterbildung entgangenen Umsatz zu kompensieren, muss man über 8.000 Behandlungseinheiten erbringen. Das ist ein Unterfangen von mehreren Jahren!
  • Etwas besser kommt bei der Berechnung das Zertifikat für KG-ZNS Erwachsene weg, da die Pflichtausbildung nur 120 Stunden dauert. Die Weiterbildung hat man dementsprechend schon nach etwa 4.000 Behandlungseinheiten wieder refinanziert.
  • Bei der Lymphdrainage fällt ein Umsatzverlust von rund 11.000 Euro während der Weiterbildungszeit an – eine Summe, die in keiner Weise erwirtschaftet werden kann. Die Weiterbildung gleicht einem Ehrenamt.
  • Auch die Berechnung für die manuelle Therapie sieht nicht gerade rosig aus. Die Weiterbildung dauert 270 Stunden, sodass hier Umsatzeinbußen in Höhe von fast 17.000 Euro anfallen. Man muss fast 4.000 Behandlungseinheiten manuelle Therapie abrechnen, bevor man diesen Umsatzausfall wieder refinanziert hat.

Und: Bei diesen Zahlen sind die jeweiligen Lehrgangs- und Prüfungskosten noch nicht enthalten!

Und die Moral von der Geschicht‘, Zertifikatsweiterbildung, das will ich nicht!

Es war einmal ein Physiotherapeut, der träumte von einer angemessenen Bezahlung für seine Zusatzqualifikation. Er bildete sich entsprechend weiter. Dann arbeitete er jahrelang dafür, die Kosten zu refinanzieren. Als sein Chef ihn dann bat, eine Lymphdrainageausbildung zu beginnen, kündigte er und wechselte den Beruf. Und wenn er nicht gestorben ist, dann wundert er sich noch heute darüber, dass Physiotherapeuten wirklich bereit sind, für bessere Qualifikation weniger Gehalt zu bekommen.

Außerdem gehören diese Artikel zum Themenschwerpunkt Zertifikatsleistungen:

Themenschwerpunkt 3.2020: Zertifikatsleistungen – Risiken und Nebenwirkungen für Praxisinhaber!

Zertifikatspositionen in der Physiotherapie: Wie zeitgemäß ist diese Form der Weiterbildungen? 

Let’s talk about: Zertifikate abschaffen

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