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Wenn das Leben zu Ende geht…

Essener Physiotherapeut berichtet über die neue „therapeutische Freiheit“ in der Hospizarbeit
Wenn das Leben zu Ende geht, muss das Wohlbefinden der Sterbenden im Mittelpunkt stehen, ist Physiotherapeut Benedikt Pokutta überzeugt. Seit 13 Jahren betreut der Praxisinhaber Patienten im Hospiz in Essen-Steele, und er freut sich, mit der Physiotherapeutischen Komplexbehandlung in der Palliativmedizinnun mehr Zeit und Spielraum für seine Therapie bekommen zu haben.
© iStock: Fahroni

 Um die Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase zu verbessern, können Ärzte seit Anfang 2019 Privatpatienten eine speziell zugeschnittene Physiotherapie verordnen. Die neue Leistungsposition „Physiotherapeutische Komplexbehandlung in der Palliativmedizin“ ist sowohl in der Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) als auch in den Beihilfevorschriften der Länder verankert.

Große therapeutische Freiheit

„Die neue Leistungsposition bietet uns eine große therapeutische Freiheit“, sagt Pokutta. „Ich kann selbst planen und bin sowohl mit der Zeit und der Frequenz der Behandlungen flexibel.“ In den 60 Minuten pro Einheit kann der Physiotherapeut tagesaktuell entscheiden, was seinem Patienten guttut. So kann er statt der geplanten Krankengymnastik auch eine Lymphdrainage machen, wenn der Patient über Schwellungen in den Armen oder Beinen klagt.

Der 37jährige Therapeut hat auch die Möglichkeit, die Behandlungseinheit zu splitten, wenn er merkt, dass der Patient nicht mehr die Kraft für eine ganze Stunde hat. „Die Patienten wissen ganz genau, was sie noch können und sagen das auch.“ Er hat die Erfahrung gemacht, dass ein Großteil der Hospiz-Bewohner selbständig sein wollen. Sie nehmen erst Hilfe an, wenn sie es wirklich nicht mehr schaffen. „Das musste ich auch erst lernen, denn wir Physiotherapeuten leiden ja hin und wieder unter dem Helfersyndrom.“

Neue Leistungsposition bei Ärzten noch wenig bekannt

Leider sei die „Physiotherapeutische Komplexbehandlung in der Palliativmedizin“ bei vielen Ärzten noch nicht so bekannt, bedauert Pokutta. In den meisten Fällen werde Manuelle Lymphdrainage mit einer durchschnittlichen Behandlungszeit von 30, 45 oder 60 Minuten verordnet. Für eine klassische Massage oder Krankengymnastik bekommt der Therapeut jedoch nur 20 Minuten Zeit. Dabei müsste gerade in der Palliativmedizin das primäre Ziel die Mobilisation der Patienten sein, abhängig von ihrem tagesaktuellen Zustand. Bislang hat der selbständige Physiotherapeut vier Verordnungen erhalten, einzig die Palliativärzte hätten sofort reagiert. „Bei den anderen Ärzten läuft es im Moment noch eher schleppend.“

Betreuung von Palliativpatienten seit 2006

Schon gleich nach seinem Abschluss hat Pokutta Palliativpatienten im Hospiz und auch ambulant betreut. Er begann 2006 in der Praxis seines Vaters, die bereits seit 2000 mit dem Hospiz in Essen-Steele zusammenarbeitete. Anfangs hatte er große Bedenken, war sich unsicher, wie er mit den Sterbenden umgehen solle. „Aber die meisten wollen wie ‚normale‘ Menschen behandelt werden und sagen dies auch mit aller Deutlichkeit.“

Schicksale der Patienten mitunter belastend

Dennoch bleibt es nicht aus, dass ihn die Schicksale seiner Patienten manchmal zutiefst berühren und auch belasten. Wie der Fall eines 24jährigen Familienvaters, der an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war und innerhalb von zwei Wochen starb. „Da ist es wichtig, dass man im privaten Umfeld und unter Kollegen Ansprechpartner hat, mit denen man reden kann.“ Eine professionelle Hilfe gebe es bislang in der Palliativmedizin noch nicht, sie wäre sicherlich wünschenswert.

Es gibt aber auch immer wieder schöne Erlebnisse. Pokutta betreute einmal eine Mittsiebzigerin, die sich mit ihrem nahenden Tod abgefunden und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte. Zum Beispiel hatte sie festgelegt, wie ihre Beerdigung gestaltet werden sollte. Nach seinem Urlaub kehrte er ins Hospiz zurück und wollte seine Behandlung fortsetzen, doch das Zimmer war leer. „Im Hospiz eigentlich kein gutes Zeichen, doch auf Nachfrage erfuhr ich, dass bei ihr kein Krebs mehr festgestellt worden war. Sie verließ das Hospiz als gesunder Mensch – so etwas hatte ich noch nie erlebt!“

Spezielle Fortbildung sinnvoll

Eine spezielle Fortbildung sei in der Palliativmedizin nach Ansicht des Praxisinhabers nicht erforderlich, aber dennoch sinnvoll. Pokutta hat gerade den Basiskurs „Palliativ Care für Physiotherapeuten“ beim Bundesverband selbständiger Therapeuten (IFK) in Bochum abgeschlossen. Die Fortbildung habe selbst einem „alten Hasen“ wie ihm neue Blickwinkel eröffnet, beispielsweise wie die Körpersprache des Therapeuten beim Patienten ankommt.

Durchschnittsalter seiner Patienten: Mitte 50

Seine Patienten sind zwischen Mitte 20 und bis weit über 80 Jahre alt. Die überwiegende Mehrheit sei Mitte 50 und leide unter Krebserkrankungen. Seit zwei Monaten betreut Pokutta eine Patientin, die an amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet. Manche Patienten behandelt er mehrere Monate, andere vielleicht nur ein einziges Mal. „Es kann passieren, dass ich montags bei einem Patienten war und Mittwoch ist er bereits verstorben.“

Flexible Terminplanung

Gerade dies mache die Terminplanung in der Palliativmedizin so schwierig, meint Pokutta. Er hat zwei feste Tage für seine Therapieeinheiten im Hospiz und für Hausbesuche eingeplant. Zusätzlich hat er einen sogenannten „Springertag“. Es kann vorkommen, dass  das Hospiz spontan anruft, wenn sich der Physiotherapeut um einen neuen Patienten kümmern soll. „Man muss schon sehr flexibel sein“, erklärt er, „und oft auf einen ‚normalen’ Arbeitsalltag verzichten – ich behandele auch bei Bedarf am Samstag oder Sonntag und auch an Feiertagen meine Schmerzpatienten im Hospiz. Besonders die Manuelle Lymphdrainage erleichtert vielen Patienten noch die letzten Stunden.“ Dafür kann er sich als Ausgleich schon mal einen freien Tag nehmen. „Nur wenn wir gesund bleiben, können wir für unsere Patienten da sein!“

Rund 15 Prozent Palliativpatienten

In seiner Praxis sind sechs Therapeuten angestellt. Aufgrund räumlicher Begebenheiten arbeiten im Wechsel immer nur gleichzeitig drei Kollegen vor Ort, während die anderen Hausbesuche machen. Die Palliativpatienten, die inzwischen einen Anteil von rund 15 Prozent ausmachen, betreut ausschließlich der Praxischef selbst – außer im Urlaub, da vertritt ihn sein Kollege. „Es ist wichtig, dass die Menschen im Hospiz ein bekanntes Gesicht sehen.“

Tolles Miteinander im Hospiz-Team

Benedikt Pokutta liebt die Arbeit in der Palliativmedizin. „Die Patienten sind sehr dankbar, wenn sich jemand um sie kümmert.“ Während der einstündigen Behandlung erfährt er auch viele persönliche Geschichten und Sorgen. „Manche bekommen nur sehr wenig Besuch, wie eine meiner Patientinnen, deren Sohn in den USA lebt.“ Grundsätzlich werde sich im Hospiz für die Menschen viel Zeit genommen, „da ist auch mal ein halbes Stündchen für einen Kaffeeplausch drin“. Die Personaldichte sei halt wesentlich größer, „und auch technisch ist ein Hospiz besser aufgestellt“. Er schätzt das „tolle Miteinander im Hospiz-Team“, wo Ärzte, Pfleger und Therapeuten sich ständig „auf Augenhöhe“ austauschen – zum Wohl des Patienten.

Sich ein Bild vom Hospiz machen

Seinen Kollegen, die sich auf die Arbeit mit Sterbenden spezialisieren wollen, empfiehlt der Physiotherapeut, sich einmal ein Hospiz anzuschauen. „Das Bild, das sich die Öffentlichkeit von einem Hospiz macht, ist häufig falsch“, sagt er. Und die „Physiotherapeutische Komplexbehandlung in der Palliativmedizin“ eröffnet neue Chancen für eine angemessene Behandlung sterbender Menschen. Pokutta wünscht sich für die Zukunft, dass diese Therapie nicht nur für Privatversicherte, sondern für alle Patienten in ihrer letzten Lebensphase möglich sein wird. „Am Lebensabend sollte das Wohlbefinden der Patienten im Mittelpunkt stehen!“

Die Chancen für eine Umsetzung seines Wunsches sieht er allerdings mit gemischten Gefühlen. „Ich hoffe, dass sich unser Gesundheitsminister, der ja schon einiges in Gang gesetzt hat, auch diesem Thema widmen wird…“

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