up|unternehmen praxis

Autismus – eine tägliche Herausforderung

Ergotherapeutin: „Autistische Kinder müssen lernen zu lernen“
Das Leben mit autistischen Kindern ist eine tägliche Herausforderung. Sie geraten oft schon wegen Kleinigkeiten aus der Fassung, und manchmal sieht es so aus, als ob das Kind einfach nicht hören will. Dem ist aber nicht so, weiß die Ergotherapeutin Daniela Küchemann, die seit 1998 mit Autisten arbeitet. Sie erleben ihre Welt anders als Menschen ohne Autismus. Oft stehen sie sich selbst im Weg, wenn sie Dingen begegnen, die nicht so sind, wie sie sie kennen. „Autistische Kinder müssen lernen zu lernen“, fasst die Therapeutin zusammen.
© mmpile

Autismus wird als eine angeborene Entwicklungsstörung definiert, die Auswirkungen auf das soziale Leben, die Kommunikation und das Verhalten hat. Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sehen die Welt quasi mit anderen Augen. Sie zeigen wenig Interesse an sozialen Kontakten, das Sprachvermögen und die kommunikativen Fähigkeiten sind unzulänglich entwickelt, und häufig zeigen sie eingeschränkte Verhaltensmuster.

Autismus in Ausbildung nur wenig thematisiert

Daniela Küchemann begegnete autistischen Kindern erstmals 1997 in ihrem Auslandsjahr in England. Dort arbeitete sie in einer Wohngruppe mit Autisten – eine Begegnung, die sie nachhaltig beeindruckte. Schon während ihrer Ausbildung suchte sie immer wieder Bereiche, die sich mit Autismus beschäftigten. „Und das sind sehr wenige“, bedauert sie. Sie ließ sich jedoch nicht beirren und absolvierte nach ihrem Abschluss entsprechende Fortbildungsangebote. Am sinnvollsten erschienen ihr im Rückblick die autismusspezifische Verhaltenstherapie (AVT) und das TEACCH-Konzept.

AVT und TEACCH-Konzept

Die AVT zielt auf eine Veränderung des Verhaltens. Geübt werden häufig einfache Dinge wie etwa das tägliche An- und Auskleiden oder die Benutzung der Toilette. Kurz: Es wird alles trainiert, das zum täglichen Leben gehört. Dazu gehören auch etwa Höflichkeitsfloskeln. Das TEACCH-Konzept (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped CHildren) ist ein pädagogischer Ansatz, der die Besonderheiten von Menschen mit Autismus respektiert. Im Mittelpunkt der Förderung steht der Aspekt der Strukturierung und Visualisierung, um die Betroffenen beim Lernen zu unterstützen.

Verdachtsdiagnose meist erst mit etwa drei Jahren

Autistische Symptome können vielfältig sein und sind oft schwer zu erkennen. So können Säuglinge, die schlecht schlafen oder viel schreien, autistisch sein. Oder Kita-Kinder, die aggressiv im Umgang mit anderen Kindern sind. Oder auch unauffällige Jugendliche, die aber eine ganz besondere Persönlichkeitsstruktur aufzeigen. Erste Anzeichen für Autismus können schon sein, „wenn sich Babies beispielsweise nicht in den Arm nehmen lassen, nicht oder kaum sprechen und keinen Blickkontakt suchen“, berichtet die 43-jährige Ergotherapeutin. „Sie schauen an der Mutter vorbei.“ Aufgrund der unterschiedlichen Symptome falle eine eindeutige Diagnose recht schwer – oft werde ASS daher erst mit etwa drei Jahren erkannt.

Individuelle Therapie

Dabei sei eine frühzeitige Therapie für die Entwicklung des Kindes entscheidend, ist Daniela Küchemann überzeugt. Die Ergotherapie helfe dem autistischen Kind, handlungsfähig zu werden und Lerngrundlagen zu bekommen. Außerdem werde die Sprache aktiviert und Interaktionen gefördert. Dabei ist es wichtig, jede Therapie individuell anzupassen, denn „wie ‚normale’ Menschen ist auch jeder Mensch mit ASS anders“. Während es bei den Kindern in erster Linie darum geht, sich in den alltäglichen Dingen besser zurechtzufinden und fit für Kita und Schule zu werden, geht es bei den Erwachsenen um Interaktion.

Vorlieben des Kindes entdecken

Für den Erfolg der Behandlung ist es entscheidend, eine gute Therapie-Basis zu schaffen. „Mindestens zehn Einheiten je 45 bis 60 Minuten brauche ich“, so die Erfahrung der Ergotherapeutin, „um zu dem Kind eine Beziehung aufzubauen und seine Vorlieben zu entdecken, die ich bei der Behandlung einsetzen kann, um es zu motivieren.“ Das kann beispielsweise Musik sein, wenn das Kind gerne singt, oder auch Gummibärchen, wenn es gerne isst. Erst nach dieser Phase können – in Absprache mit den Eltern – die Therapieziele formuliert werden. „Häufig wünschen sich Eltern in einem ersten Schritt, dass das Kind lernt, am Tisch sitzen zu bleiben, denn autistische Kinder sind sehr empfänglich für Reize und laufen gerne hin und her.“

Elternarbeit eine wichtige, aber schwierige Aufgabe

Die Eltern spielen in der Therapie eine wichtige Rolle, doch die Elternarbeit gestaltet sich oft schwierig. „Die sehr enge Beziehung und das eingespielte Muster im Verhalten vieler Kinder mit ihren Eltern fördert eine erfolgreiche Behandlung nicht unbedingt“, so die Praxisinhaberin. Daher sei es entscheidend, dieses Verhaltensmuster zügig zu durchbrechen. Wünschenswert ist eine Therapie ohne Beisein der Eltern, ihre Beratung findet in Einzelgesprächen statt. Leichter ist dagegen das Coachen von Erziehern und Integrationshelfern, bei denen die emotionale Bindung nicht so groß ist. „Wir erstellen das Lernprogramm, das anschließend im Alltag umgesetzt wird.“

Lange Warteliste auf Therapieplatz

In ihrer Praxis betreut Daniela Küchemann aktuell 50 bis 70 autistische Patienten, überwiegend Kinder. Die Nachfrage sei groß und die Warteliste auf einen Therapieplatz lang. „Derzeit schaffe ich es nicht, die Warteliste abzuarbeiten“, bedauert sie. Der Grund sei das fehlende Personal: Aktuell beschäftigt sie sieben Mitarbeiter, aber sie sucht schon lange nach vier weiteren Vollzeitkräften. Bislang leider ohne Erfolg.

Zusammenarbeit mit Autismus-Zentrum Hannover

Seit Jahren arbeitet die Ergotherapeutin eng mit dem Autismus-Zentrum Hannover zusammen, das ihr die Kinder zur Behandlung überweist. Daher habe sie auch nie für ihr Therapieangebot die Werbetrommel rühren müssen. Sie entwarf lediglich einen Flyer, aber mehr als Patienten-Information. Allerdings liege die Kooperation aufgrund der Corona-Pandemie seit März 2020 brach – ein schwerer Rückschlag für die Betroffenen, da ihre Therapie ruhen muss. „Die Kinder in meinen Praxisalltag zu integrieren ist schwer“, erklärt die Therapeutin. „Viele Menschen mit ASS sind sehr laut und teilweise aggressiv, sodass sie die Arbeit mit meinen anderen Patienten erheblich beeinträchtigen.“

2014 – Gründung der Autismus-Ambulanz

Aufgrund der immer steigenden Nachfrage gründete Daniela Küchemann 2014 eine  Autismus-Ambulanz. Hier werden Kinder mit der Diagnosegruppe F.84.0 und F.84.1 der ICD-10 gefördert, die kein Rezept aber berechtigte Ansprüche nach §53 SGB XII der Eingliederungshilfe der Region Hannover vorlegen können. Mit Hilfe des autismusspezifischen Förderkonzepts soll das Lern- und Lebensumfeld des Kindes angepasst und damit eine verbesserte Alltagskompetenz ermöglicht werden, heißt es auf der Praxis-Website. Allerdings läuft die Zusammenarbeit mit den Behörden nicht immer reibungslos: „Entweder werden die Anträge nicht oder sehr schleppend bearbeitet“, so ihre Kritik, „oder ich muss lange auf mein Geld warten.“

Befragt nach ihren Wünschen für die Zukunft antwortet Daniela Küchemann spontan: „Mehr Personal, damit ich endlich das realisieren kann, was ich mir schon lange wünsche, nämlich noch mehr Kindern helfen zu können…“

Autismus-Spektrum-Störungen können gebessert, aber nicht geheilt werden

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ des Gehirns. Experten gehen davon aus, dass weltweit bis zu ein Prozent der Bevölkerung von einer autistischen Störung betroffen ist – Jungen viermal häufiger als Mädchen. Autismusbedingte Beeinträchtigungen können zwar häufig gebessert oder kompensiert, aber nicht geheilt werden.

Es wird zwischen drei verschiedenen Formen unterschieden:

  • Frühkindlicher Autismus (auch Kanner-Syndrom), erstmals 1943 vom Kinderpsychiater Leo Kanner verwendet
  • Asperger-Syndrom, Mitte der 40er Jahre benannt nach dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger
  • Atypischer Autismus

Die Merkmale des frühkindlichen Autismus zeigen sich bereits vor dem dritten Lebensjahr und äußern sich im sozialen Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation und in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen. Beim Asperger-Syndrom ist oft keine Entwicklungsverzögerung bzw. kein Entwicklungsrückstand in der Sprache oder der kognitiven Entwicklung vorhanden. Der atypische Autismus tritt am häufigsten auf. Er erfüllt nicht alle Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus und zeigt sich meist erst nach dem dritten Lebensjahr.

(Quelle: autismus Deutschland)

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all Kommentare
0
Wir würden gerne erfahren, was Sie meinen. Schreiben Sie einen Kommentar.x