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Physiomobil ohne Grenzen

Physiotherapeutin Fina Steen will denen helfen, die durchs Netz fallen
Ein ausrangierter Rettungswagen, der als Praxis für Physiotherapie eingerichtet dorthin kommt, wo Hilfe benötigt wird: Das ist die Idee von „Physiomobil ohne Grenzen“. Die Physiotherapeutin Fina Steen möchte damit Menschen behandeln können, die keinen normalen Zugang zu Physiotherapie haben – Menschen ohne Obdach, ohne Krankenversicherung. Das spendenfinanzierte Projekt soll im Sommer in Kiel und Hamburg starten.
© Fina Steen

Fina Steen ist Idealistin, gewiss – aber naiv ist sie nicht. Das sei diesem Artikel vorangestellt. Denn das Projekt, das Steen derzeit auf den Weg bringt, könnte für ungläubiges Kopfschütteln bei denjenigen sorgen, die vor allem wirtschaftlich denken. Doch reiht es sich in eine Reihe von Projekten, die aus unserer Zeit nicht mehr wegzudenken sind und die ihre Notwendigkeit längst unter Beweis gestellt haben: Initiativen wie Ärzte ohne Grenzen, Viva con agua, Sea-Watch und weitere.

Alter Rettungswagen wird zum Physiomobil

Mit einem ausrangierten und entsprechend umgebauten Rettungswagen möchte die 22-jährige Physiotherapie für diejenigen anbieten, die sie benötigen, aber keinen Zugang haben. „Es soll ein mobiler kleiner Raum sein, in dem ich alles habe, was ich benötige, um gleichwertige – oder fast gleichwertige – Therapie anzubieten“, erklärt Steen. „Mit dem Mobil kann ich überall hinkommen, auch zu denen, die sich kein Bus- oder Bahnticket leisten können.“

Idee entstand durch Fragen zur Leistungsabrechnung

Steen arbeitet als mobile Physiotherapeutin. Als solche darf sie ausschließlich Privatpatienten und Selbstzahler behandeln. Möglich ist zudem eine präventive Behandlung, „aber dann behandle ich keine kranken Menschen, sondern solche, die vorbeugend eine Massage haben oder ein wenig Sport treiben wollen“, erzählt Steen. „Es hat mich genervt, keine Kassenpatienten behandeln zu dürfen. Deshalb habe ich angefangen, nach Wegen zu suchen, wie ich gesetzlich versicherte Menschen ebenfalls versorgen kann. Dabei hat sich mir die Frage gestellt, was eigentlich mit den Menschen ist, die gar nicht versichert sind – oder die keinen Zugang zur Physiotherapie haben. Daraus ist dann die Projektidee entstanden.“

Die richtige Rechtsform finden

– das war gar nicht so einfach. Steen wandte sich mit ihrem Vorhaben an den „leetHub“, einen Verein im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Dort werden Menschen mit Ideen für Projekte zur gesellschaftlichen Teilhabe beraten und bei der Umsetzung begleitet. „In unserer Gruppe waren vier Frauen mit Ideen und dazu Leute des ‚leetHubs‘. Gemeinsam haben wir uns darin unterstützt, unsere Businesspläne zu erstellen.“

Als Rechtsform für Steens Projekt herausgekommen ist eine gUG, eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft. Dabei handelt es sich sozusagen um die kleine Schwester einer gGmbH, der gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die Unterschiede zwischen gUG und gGmbH liegen vor allem in der Höhe des erforderlichen Stammkapitals sowie in der Haftung: Während für die gGmbH 25.000 Euro benötigt werden, benötigt die gUG nur einen Euro Stammkapital.

Alle Gewinne fließen zurück ins Projekt

Bei der gGmbH muss zumindest die Hälfte des Geldes auf das Bankkonto der Gesellschaft eingezahlt werden. Bei gUG müssen immer nur 25 Prozent des Gewinnes einbehalten werden, um die Stammeinlage aufzustocken. Sie ist haftungsbeschränkt und bietet ihren Gründern daher Sicherheit. Eine Gewinnausschüttung an die Geschäftsführung gibt es bei Gemeinnützigkeit nicht. Das Geld, das reinkommt, muss wieder in das Projekt investiert werden. Sind die 25.000 Euro zusammengekommen, kann die gUG in eine gGmbH umgewandelt werden. „Langfristig kann das sinnvoll sein“, sagt Steen. „Eine gGmbH steht bei Sponsoren meistens besser da – vielleicht, weil diese Rechtsform bekannter ist.“

Gegen die Rechtsform als Verein hat sich die Physiotherapeutin bewusst entschieden. „Zwar mag ich es grundsätzlich, wenn Dinge kollektiv entschieden werden. Aber hier würde ich bei den Ideen und den moralischen Ansprüchen, die ich für und an das Projekt habe, gerne noch die Oberhand behalten. Damit es in die richtige Richtung geht“. Moralische Ansprüche – das meint zum Beispiel, dass das Projekt nicht gewinnorientiert wird und dass es für mögliche Angestellte eine faire Bezahlung gibt.

Die Finanzierungsfrage

Eine Physiotherapiepraxis – auch eine mobile – verursacht laufende Kosten. Dazu kommen Materialkosten und natürlich auch die Kosten für geleistete Arbeit. Therapeuten, die sich zurzeit mit einer Praxis selbständig machen, genießen Steen gegenüber den Vorteil der Planungssicherheit: Die GKV hat angekündigt, dieses Jahr mehr als zehn Milliarden Euro für Heilmittel zur Verfügung stellen zu wollen. Zudem gibt es lange Wartelisten, weil der Bedarf so groß ist.

Steen dagegen wird flexibel sein müssen: Ihr Physiomobil soll sich ausschließlich über Spenden finanzieren. Geplant und gerechnet werden kann also nur mit dem Geld, das über Spenden reinkommt. Aber die junge Therapeutin ist zuversichtlich, denn in den vergangenen anderthalb Jahren, die sie das Projekt nun vorantreibt, hat sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, was funktionieren kann – und wie lange der Prozess von der Anfrage bis zum Geldfluss in etwa dauert. „Ich habe mir zudem viele Anregungen bei Projekten ähnlicher Natur geholt“, erzählt Steen. „Inzwischen sind auch schon Unternehmen auf mich zugekommen, die mich mit Sachspenden unterstützen wollen, etwa mit Desinfektionsmitteln oder Verbandsstoff.“

Bekannt und akzeptiert werden

– ist das, worum es nun vor allem geht. Das Physiomobil soll sich an bedürftige Menschen richten – Menschen ohne Krankenversicherung, Menschen in Asylbewerberunterkünften, Obdachlose. Doch gilt auch hier: keine Behandlung ohne Rezept oder die Erlaubnis, zu behandeln. Steen denkt über verschiedene Modelle nach, etwa eine Behandlung auf Abruf in Kooperation mit der „Praxis ohne Grenzen“. „Diese führt ambulante OPs für Menschen ohne Versicherung oder Papiere durch. Da wäre ich dann auf Abruf bereit, wenn eine OP ansteht, hinzufahren und die Vor- und Nachsorge zu übernehmen.“ Oder einen festen Standort für ein bis zwei Stunden pro Woche gemeinsam mit einem Arzt oder einer Ärztin. „Denkbar wären auch Campärzte. Dann würde ich zum Beispiel Menschen behandeln, die gerade in einer Unterkunft leben müssen. Und sollte es irgendwo ein Patientenzimmer geben, kann ich auch dort behandeln.“ Klar ist, ohne die Zusammenarbeit mit Ärzten geht es nicht.

Steen bewirbt ihr Projekt vor allem über die sozialen Medien und durch Mund-zu-Mund-Propaganda; auch eine eigene Internetseite wird momentan aufgebaut. Im Sommer dann, hofft die 22-Jährige, kann das Projekt in Hamburg und Kiel an den Start gehen – und möglichst viele Nachahmer finden. „Mein Ziel“, so Steen, „ist es, dass in jeder Stadt ein Physiomobil herumfährt und alles behandelt, was so rumläuft.“

Wer mehr über das Physiomobil erfahren möchte, findet Informationen unter www.Physiofina.de, auf Instagram unter physiofina.de und in unserem Podcast „up_doppelbehandlung“. Die 22-Jährige nimmt am yooweedoo-Ideenwettbewerb (https://www.yooweedoo.org/de/ideenwettbewerb/2022) für Gründer:innen nachhaltiger, gemeinwohlorientierter und sozialunternehmerischer Projekte, Vereine und Start-ups in Schleswig-Holstein teil. Der Ideenwettbewerb wird von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Zusammenarbeit mit der Zukunftsmacher Akademie gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt) durchgeführt und ermöglicht den ausgewählten Projekten Startkapital, Workshops und Beratung. Auf der youweedoo-Seite kann für das Physiomobil abgestimmt werden.

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