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Dem Gedächtnis auf der Spur

Hamburger Logopädin arbeitet seit über 30 Jahren mit Demenz-Patienten
Kommunikationsstörungen bei neurologischen Erkrankungen haben die Logopädin Heike Grün schon in ihrer Ausbildung fasziniert. Immer wieder aber kam sie an Grenzen, da klassische Aphasietherapie oft nicht die gewünschten Erfolge zeigte. Sie setzte sich mit Sprachstörungen bei Demenz auseinander - ein bis dahin wenig beachteter Bereich in der Logopädie, und sie erkannte: Bei Demenzpatienten geht es nicht um die Verbesserung ihrer Defizite, sondern um die Förderung ihrer Ressourcen - immer ihrem Gedächtnis auf der Spur.
© urbazon / copyright by Dejan Pejcic

Auf der Suche nach neuen Therapieansätzen stieß die Hamburger Logopädin auf das Konzept Integrative Validation (IVA), das in den 90er-Jahren von der Diplom-Psychogerontologin Nicole Richard konzipiert und ursprünglich für Pflegekräfte entwickelt wurde. Richard sah Menschen mit Demenz aus einer anderen Perspektive: Man müsse Demenz als eine von vielen Formen des Alterns ansehen. Dadurch werde es möglich, dem Menschen mit Demenz wertschätzend zu begegnen, sich auf seine Welt einzulassen und sie in ihrer Besonderheit anzunehmen.

Sich von Wünschen und Bedürfnissen leiten zu lassen

Die Beschäftigung mit der Validation hat Heike Grün in ihrer Therapiearbeit sehr bereichert. Sie wusste nun, wie sie Zugang zu Menschen mit Demenz finden konnte. „Ich bin von Beginn an mit meinen Patienten gewachsen, habe viel von ihnen gelernt, mich von ihren Wünschen und Bedürfnissen leiten lassen und verstanden, dass ein Mensch mit Demenz eine andere Leistungsfähigkeit und einen anderen Umgang mit Defiziten zeigt.“

Wissen um Demenzformen und -stadien

Für eine erfolgreiche Behandlung ist es nach Auffassung der Logopädin wichtig, die verschiedenen Formen und Stadien der Demenz zu kennen und sie zu erkennen. Es gebe unterschiedliche Demenzformen mit entsprechend unterschiedlichen sprachlichen und kommunikativen Einschränkungen. So zeigen sich typische Auffälligkeiten bei einer Alzheimer-Demenz in einer Weitschweifigkeit im Gespräch, sie wechseln sprunghaft die  Themen oder haften an wiederkehrenden Themen. Die Äußerungen werden zunehmend inhaltsarm, Wortfindungsstörungen erschweren das Formulieren von Gedanken, was zu Missverständnissen im Alltag führen kann. Menschen mit einer primär progressiven Aphasie dagegen zeigen typische sprachliche Symptome, weisen aber zunächst keine Schwierigkeiten in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration oder Gedächtnis auf.

Vertrauensbasis aufbauen

Vor jeder sprachtherapeutischen Arbeit, die sich auf die selbst formulierten Therapieziele des Patienten und seiner Angehörigen bezieht, steht die Beziehungsarbeit. Der Therapeut muss emotional positive Momente mit dem Patienten schaffen, um eine Vertrauensbasis aufbauen zu können. Erst dann kann er die Ressourcen erkennen und ihn in seiner „inneren Erlebenswelt“ erreichen. Menschen mit Demenz werden laut Grün von Antrieben und Gefühlen geleitet. Werden diese ernst- und wahrgenommen und in kurzen Sätzen – wie ein Echo – wertschätzend wiedergegeben, fühlen sich die Menschen verstanden. Daher werde es im Gespräch mit Demenz-Patienten zunehmend wichtiger, wie etwas gesagt wird, und unwichtiger, was gesagt wird.

Menschen mit Demenz profitieren von Logopädie

„Obwohl Demenz leider noch nicht im Indikationskatalog logopädischer Leistungen zu finden ist, können Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen von unserer Kompetenz profitieren“, ist Heike Grün überzeugt. Der Erhalt der Kommunikationsfähigkeit sei schließlich ein entscheidendes Kriterium für die Teilhabe am Leben. „Es war in meinen Anfangsjahren allerdings schwierig, entsprechendes Therapie-Material aufzutreiben“, erinnert sich die Therapeutin. So erarbeitete sie gemeinsam mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen speziell auf ihn abgestimmtes Material. Das waren individuelle Biografie- und  Erinnerungshefte oder am Alltag des Patienten orientiertes Material wie beispielsweise gemeinsam erarbeitete Texte, die Erlebnisse des Patienten festhalten. „Inzwischen gibt es auf dem Markt ein großes Angebot an Materialien für die Seniorenarbeit. Bei der Auswahl sollte unbedingt auf die individuelle Alltagsrelevanz und Leistungsfähigkeit des jeweiligen Patienten mit Demenz geachtet werden. Es sollte stets überprüft werden, ob der Therapeut mithilfe des Materials Kontakt, Orientierung, Sinn und Handlungskompetenz herstellen kann.

Defizitsicht schafft Ohnmacht

Im Mittelpunkt ihrer Therapie, die sich an den ICF-Kriterien (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) orientiert, stehen die sprachlich kommunikativen Ressourcen des Patienten, nicht ihre Defizite. „Defizitsicht schafft Ohnmacht“, zitiert die Therapeutin IVA-Gründerin Richard. Ein Beispiel: „Mein Patient kannte den Begriff Giraffe nicht. Vielleicht wusste er noch, dass es ein Tier ist. Es hätte wenig Sinn gehabt, auf dem Begriff zu insistieren. Ich habe ihn im Gespräch daher ermuntert, mir die Tiere zu nennen, die er noch kennt. Dadurch habe ich ihm ein Wohlgefühl verschafft.“

Vergangenheit ist Schlüssel zur Gegenwart

Der Blick in die Vergangenheit des Betroffenen ist häufig der Schlüssel für die Gegenwart und kann viele Verhaltensweisen erklärbar machen. Ein Beispiel: Ein Demenz-Patient verweigert vehement das Essen – scheinbar ohne Grund. Doch auf Nachfrage stellt sich heraus, dass er sein Leben lang großen Wert auf Tischetikette und -manieren gelegt hat. Bei seinem Mittagessen aber fehlt die Serviette! Erst als sie neben dem Teller liegt, fängt er an zu essen.

Sitzungsablauf immer nach demselben Schema

Es ist das Gewohnte, das Menschen mit Demenz Sicherheit gibt. Daher sollten auch die wöchentlichen Therapiesitzungen von 60 Minuten immer nach dem selben Schema ablaufen. „Schließlich sollen sie dem Betroffenen in erster Linie Freude bereiten und Kontakt ermöglichen“, erklärt die Logopädin. In der ersten Phase äußert er sich über seinen aktuellen Gefühlszustand und berichtet über die letzten Tage. Es folgen Übungen zur Konzentration und schließlich zur kommunikativen Kompetenz – immer angepasst an die aktuelle Leistungsfähigkeit. Am Ende der Sitzung soll der Patient sagen, wie er die Sitzung empfunden hat. Im Schnitt läuft eine Therapie in Intervallen von 40 bis 60 Sitzungen ab. Es folgt eine Pause, in der Patient und Angehörige die erarbeiteten Strukturen im Alltag erproben können. Bei Patienten ohne Angehörige können die Intervalle größer sein.

Angehörige im besten Fall sowohl Experten als auch Co-Therapeut

Bei der Behandlung spielen die Angehörigen eine große Rolle. „Im besten Fall sind sie sowohl Experten als auch Co-Therapeuten, wenn der Patient einverstanden ist.“  Angehörige erhalten Informationen zu allen Ergebnissen der Diagnostik und zu allgemeinen und individuellen Zielen der Behandlung. Sie bekommen hilfreiche Strategien an die Hand, die den Umgang mit dem Betroffenen erleichtern. Gerade im fortgeschrittenen Stadium der Demenz tritt die Beratung der Angehörigen immer mehr in den Vordergrund. Wenn die sprachlichen Fähigkeiten schwinden, wird es wichtiger, den kommunikativen Kontakt über andere Wege aufrechtzuerhalten, wie Gestik, Mimik, Berührung oder Musik.

Auf emotionales Abenteuer einlassen

Heike Grün bedauert, dass Logopädie bei einer Sprachstörung im Rahmen einer Demenz regional immer noch sehr unterschiedlich verordnet werde. „Hier liegt noch sehr viel berufspolitische Arbeit vor uns, aber auch wissenschaftliche Arbeit, die Wirksamkeitsbelege aufzeigt.“ Sie wird sich weiter engagieren und kann Kollegen nur ermuntern, „sich auf das emotionale Abenteuer einzulassen, welches in die Welt eines Menschen führt, in der wir Fremdes erleben, Seltsames tolerieren und wertschätzen lernen, um diesem Menschen mit unseren Mitteln sein (kommunikatives) Selbst zu erhalten.“

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