up|unternehmen praxis

ICF: Anamnese

Ausgangspunkt für die Anwendung der ICF ist das (entwicklungsbedingte, akute, chronische oder lebensbegrenzende) Gesundheitsproblem einer Person, das mit Veränderungen von Körperfunktionen und/oder Körperstrukturen einhergeht. Diese wirken sich ihrerseits auf die Aktivitäten und das Eingebunden sein der Person in das gesellschaftliche Leben aus, stets in Abhängigkeit von den persönlichen Lebensumständen. So ist zu erklären, warum das gleiche Gesundheitsproblem im Leben zweier Menschen ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die persönliche Funktionsfähigkeit haben kann. Die alleinige Betrachtung des Gesundheitsproblems, losgelöst von der Lebenssituation des Menschen, würde die Komplexität der Folgen nicht ausreichend berücksichtigen.
© schmolzeundkühn

Hier setzt das Konzept der ICF an, indem es den Blick auf den Menschen über das bloße Gesundheitsproblem hinaus auf die gesamte Lebenssituation erweitert. Anhand der ICF-Komponenten kann das komplexe Bedingungsgefüge von individuellen Wechselwirkungen systematisch erfasst und dokumentiert werden, ohne dass es sich dabei um ein Assessmentinstrument handelt. Auf diese Weise treten Zusammenhänge zutage, die im weiteren Therapieprozess von Bedeutung sein und die Indikation von Physiotherapie untermauern können.

ICF in der Anamnese

Üblicherweise erfragen Sie in der Anamnese, welches Gesundheitsproblem bei Ihrem Patienten besteht und welche Einschränkungen damit einhergehen. Je nach Erkrankung, Alter und Konstitution sind ergänzende Angaben von Angehörigen und Bezugspersonen sinnvoll oder sogar notwendig. Wird der Grundgedanke der ICF in der Anamnese berücksichtigt, so steht die Teilhabe des Menschen im Mittelpunkt jeder Befragung:

  • Welche Folgen hat das Gesundheitsproblem in Bezug auf die Aktivitäten und die Teilhabe der Person?
  • Welche Wechselwirkungen bestehen untereinander?
  • In welchen Lebensbereichen schränkt das Gesundheitsproblem die Funktionsfähigkeit der Person in welchem Umfang ein?
  • Kann der Betroffene all das tun, was er möchte?
  • Welche Förderfaktoren und Barrieren begünstigen bzw. erschweren im persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit?
  • Woran möchte der Patient wieder teilhaben?
  • Welchen Aktivitäten möchte der Patient nachgehen können, die ihm wichtig sind?
  • Woran wird der Patient den Therapieerfolg messen?
  • Wann wäre die Therapie für den Patienten erfolgreich?

ICF als Organisationsrahmen

Die Komponenten der ICF helfen dabei, die Fülle von erhobenen Informationen auf sinnvolle und leicht zugängliche Art und Weise zu strukturieren. So entsteht eine ganzheitliche Momentaufnahme der Lebenssituation Ihres Patienten als Grundlage für den weiteren Therapieprozess. Wir zeigen Ihnen als Fortsetzung der letzten Ausgabe beispielhafte Fragen zu den ICF-Komponenten für die Diagnose Hirninfarkt und wiederholen in diesem Zusammenhang die wichtigsten Grundbegriffe.

Das Gesundheitsproblem wird typischerweise als Krankheitsdiagnose mit der ICD-10 erfasst. Hier werden alle Diagnosen und Nebendiagnosen vermerkt, die für den Therapieprozess relevant sein können. Sie sind Bestandteil z. B. des Arztbriefes und der Heilmittelverordnung.

Im Sinne der ICF werden Informationen in zwei Teile gegliedert. Der eine Teil umfasst die Funktionsfähigkeit und Behinderung mit den Komponenten Körperfunktionen und Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]. Der andere Teil enthält die Kontextfaktoren, bestehend aus den Umweltfaktoren und personbezogenen Faktoren. In beiden Komponenten kann es sowohl Förderfaktoren (+), die die Funktionsfähigkeit der Person verbessern, als auch Barrieren (-), die die Funktionsfähigkeit der Person einschränken, geben.

Die Komponente Körperfunktionen und Körperstrukturen erfasst alle Strukturen und Funktionen des Körpers, die durch das Gesundheitsproblem vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigt sind. Hierzu zählt z. B. die Sensibilität und Beweglichkeit der Extremitäten, die Konzentrationsfähigkeit oder die Sprachstörung.

Zu der Komponente Aktivitäten gehören Aufgaben oder Handlungen, die die Person durchführt. Erfasst werden Schwierigkeiten, die ein Mensch beispielsweise beim Lernen, Kommunizieren, Ändern der Körperposition, bei der Selbstversorgung oder Interaktion mit anderen Menschen hat.

Bei der Komponente Partizipation [Teilhabe] geht es um das Einbezogen sein in eine Lebenssituation wie in das Familienleben, den Freundeskreis, die Arbeitswelt oder den örtlichen Sportverein und die Gemeinde. Dabei ist eine eindeutige Trennung zwischen Aktivitäten und Teilhabe innerhalb verschiedener Lebensbereiche oft nicht möglich, weshalb sie in der Grafik gemeinsam aufgeführt sind.

Die Komponente der Umweltfaktoren beschreibt die äußeren Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung. Es geht um die persönliche, unmittelbare Umwelt eines Menschen und den Kontakt zu anderen, vertrauten wie fremden, Personen. Faktoren der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Umwelt liegen außerhalb der Person. Hierunter fallen z. B. die Verfügbarkeit von Medikamenten, Hilfsmitteln und Sozialleistungen wie auch die Erreichbarkeit von Heilmittelerbringern und Ärzten.

Personbezogene Faktoren als letzte Komponente enthalten allgemeine Merkmale einer Person wie Alter und Geschlecht, Gewohnheiten, sozialer Hintergrund, Schulabschluss, Ausbildung, Beruf, Lebenserfahrung oder psychisches Leistungsvermögen.

Fazit: Perspektivwechsel

Wie Sie an den Beispielfragen sehen, sind viele Aspekte seit jeher Bestandteil Ihrer Anamnese. Bei dem Konzept der ICF geht es nicht darum, das therapeutische Rad gänzlich neu zu erfinden, sondern darum, die Perspektive auf die Behandlung des Patienten zu verändern. Während es früher üblich war, dass Experten wie Ärzte und Therapeuten die Struktur- und Funktionsziele für den Patienten formuliert und priorisiert haben, stehen heute die Teilhabe- und Aktivitätenziele des Patienten selbst im Vordergrund. Gemeinsam mit dem Patienten werden die Ziele auf den Ebenen der Teilhabe und der Aktivitäten festgelegt. Daran orientieren sich die Ziele auf der Ebene von Körperfunktionen und – strukturen, die zum Erreichen der übergeordneten Teilhabeziele notwendig sind.

Sie als Physiotherapeut wissen, dass es im Therapieprozess um die Frage geht, wie der Patient mit Ihrer Hilfe sein bisheriges Leben auch unter den veränderten Bedingungen wieder führen kann. Diese Frage eint alle, die an der Behandlung eines Patienten beteiligt sind, unabhängig davon, ob Sie Therapeut, Arzt oder Angehöriger sind. Die ICF als „gemeinsame Sprache“ soll dabei den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit aller Beteiligten untereinander und mit dem Patienten erleichtern. Sie schafft Transparenz der therapeutischen Strategien, ausgerichtet an der Lebenswirklichkeit des Patienten.

ICF in Ihrer Praxis

Nun stellt sich die Frage, in welchem Umfang und mit welchem Aufwand Sie die ICF in den Therapieprozess integrieren können, um den größtmöglichen Nutzen aus dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise zu ziehen.

Tipp: In Bezug auf die Anamnese prüfen Sie zunächst Ihren Anamnesebogen in Hinblick auf die ICF-Komponenten, um den Aufwand an Änderungen einschätzen zu können. Sind diese ergänzt, können Sie Ihren ICF-orientierten Anamnesebogen beispielsweise auf Ihrer Website zum Download zur Verfügung stellen, ihn vorab per E-Mail an den Patienten schicken oder ihn und seine Angehörigen beim ersten Termin eine Therapieeinheit früher einbestellen, damit sie ausreichend Zeit haben, möglichst viele Fragen bereits vor der ersten Stunde zu beantworten. So sparen Sie Zeit, die Sie für Nachfragen und die Klärung von Zusammenhängen im anschließenden persönlichen Gespräch nutzen können.

Paradigmenwechsel durch ICF

Die biopsychosoziale Sichtweise auf eine Person mit einem Gesundheitsproblem und der daraus resultierenden Funktionsfähigkeit markierte 2001 mit der Einführung der ICF einen Paradigmenwechsel, weg von einer auf die Diagnose und die Defizite beschränkten Sicht hin zu einer umfassenden Betrachtung des ganzen Menschen. So werden das Gesundheitsproblem und dessen Folgen in Beziehung zu der Biografie und der Lebenswelt des Menschen gesetzt.

10 Gründe für die ICF als Grundlage der eigenen Arbeit

Aus Patientensicht

  • Patient ist aktiver Partner und nicht mehr passiver Empfänger von therapeutischen und medizinischen Leistungen
  • seine Teilhabe steht im Mittelpunkt
  • verstärkt die Eigenverantwortung und Mitarbeit des Patienten
  • gemeinsame Formulierung und Priorisierung von Therapiezielen
  • ermöglicht patientennahes und vorausschauendes Planen und Handeln innerhalb des Therapieprozesses

Aus Therapeutensicht

  • strukturiert systematisch die Informationen von der Anamnese bis zum Therapiebericht
  • erweitert den Blick auf Förderfaktoren und Barrieren im Bedingungsgefüge von biopsychosozialen Wechselwirkungen
  • erhöht die Motivation des Patienten zur aktiven Mitarbeit am Therapieprozess
  • erleichtert durch berufsgruppenunabhängige Begriffe die Kommunikation zwischen Patient, Therapeut, Arzt und Kostenträger
  • unterstützt die Anforderungen der Heilmittel-Richtlinie an die Heilmittelindikation (§ 3 Abs. 5 HeilM-RL)

Außerdem interessant:

ICF-Grundlagen

ICF: Diagnostik

ICF: Planung

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all Kommentare
0
Wir würden gerne erfahren, was Sie meinen. Schreiben Sie einen Kommentar.x