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ICF: Grundlagen

Physiotherapeuten kümmern sich um die Wiederherstellung oder Verbesserung der Lebensqualität ihrer Patienten. Der Weg dorthin gleicht für Kollegen, Ärzte und Kostenträger oft einer Blackbox. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (kurz ICF) erfasst systematisch und ressourcenorientiert die Folgen von Krankheiten. Wie Sie die Struktur der ICF konkret für den Therapieprozess und den berufsübergreifenden Austausch nutzen können, zeigen wir Ihnen.
© DjelicS,schmolzeundkühn

ICF als Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit

Die ICF gehört zu den gesundheitsrelevanten Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie löste 2001 die ICIDH – International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps – ab. Letztere beeinflusste maßgeblich die Gestaltung des Neunten Sozialgesetzbuchs (SGB IX), das seit 2001 die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in Deutschland regelt.

Das biopsychosoziale Modell als Basis der ICF

Der ICF liegt das biopsychosoziale Modell zugrunde. Es verbindet zwei gegensätzliche Ansätze zur Beschreibung der Funktionsfähigkeit eines Menschen.

  • Das medizinische Modell sieht Behinderung als Problem einer Person durch Krankheit, Folgen eines Unfalls oder ein anderes gesundheitliches Problem, das der medizinischen Versorgung bedarf, z. B. in Form einer individuellen Behandlung durch Fachleute. Demzufolge wird die Behinderung durch Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung des Betroffenen bewältigt. Der medizinischen Versorgung kommt hier eine Schlüsselrolle zu.
  • Das soziale Modell betrachtet die Behinderung einer Person hingegen als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und nicht als Merkmal einer Person. Folglich muss die Umwelt so gestaltet werden, dass eine vollumfängliche Teilhabe des Menschen mit Behinderung an allen Bereichen des sozialen Lebens möglich ist. Es geht also um die Integration von Betroffenen in die Gesellschaft. Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass neben der Schädigung auch die tatsächliche Leistung und Leistungsfähigkeit einer Person betrachtet werden muss.

Komponenten der ICF

Mithilfe der ICF können die biopsychosozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der individuellen Kontextfaktoren systematisch und strukturiert erfasst werden. Die ICF ist in zwei Teile mit je zwei Komponenten gefasst:

Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung

  • Körperfunktionen und -strukturen
  • Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]

Das Gesundheitsproblem, also z. B. die Gesundheitsstörung oder Krankheit, wird als Diagnose definiert. Es führt zu einer Veränderung an Körperfunktionen und/ oder Körperstrukturen und wirkt sich meist auf die Aktivitäten und die Partizipation [Teilhabe] eines Menschen in Abhängigkeit von den persönlichen Kontextfaktoren aus.

Teil 2: Kontextfaktoren

  • Umweltfaktoren
  • Personbezogene Faktoren

Die Kontextfaktoren können sich positiv oder negativ auf die Krankheitsauswirkungen bzw. die Funktionsfähigkeit auswirken.

Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn (angesichts ihrer Kontextfaktoren)

  • ihre körperlichen Funktionen und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen,
  • sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird
  • und sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen, -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird.

Die Behinderung als Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit ist also ein dynamischer Prozess mit vielfältigen Wechselwirkungen der genannten ICF-Komponenten untereinander (siehe Schaubild).

Gesetzliche Verankerung der ICF

Die ICF ist in Deutschland über die Rehabilitations-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und das Bundesteilhabegesetz verankert. Sie dient als Grundlage für die Entscheidung über individuelle Rehabilitationsmaßnahmen. Nicht nur die Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) des G-BA, sondern auch die Rahmenempfehlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und den maßgeblichen Spitzenorganisationen der Heilmittelerbringer fordern die Berücksichtigung der ICF-Komponenten als Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Heilmittelverordnung (§ 3 Voraussetzungen der Verordnung, HeilM-RL), die Auswahl und Anwendung des Heilmittels (§ 12 Auswahl der Heilmittel, HeilM-RL) und in der Verlaufsdokumentation der therapeutischen Wirkung (Rahmenempfehlungen für eine einheitliche Versorgung mit Heilmitteln).

Fazit: ICF in der ambulanten Heilmitteltherapie

Betrachtet man das Konzept der ICF als Bezugsrahmen für die eigene therapeutische Arbeit, so werden die Behandlungsziele des Patienten stärker in den Fokus gerückt und individuell gewichtet. Auf diese Weise können die Funktionsstörungen, die zu Einschränkungen in der persönlichen Teilhabe führen, umfassend im Therapieprozess berücksichtigt und dokumentiert werden. Dies kann den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit von Ärzten und Therapeuten sowie von Therapeuten untereinander im Hinblick auf die Ziele und die Teilhabeförderung der Patienten verbessern.

Ausblick

Wir zeigen Ihnen ab der kommenden Ausgabe, wie Sie die ICF als Strukturhilfe in der täglichen Arbeit mit Ihren Patienten anwenden können. Erfolgt Ihre Behandlung auf der Basis der ICF, spiegelt sich dies auch in der Dokumentation und dem Therapiebericht wider. So kann der Arzt anhand Ihres Berichts zielorientiert über die Weiterverordnung im Sinne der Patienten entscheiden und ist für den Fall einer Wirtschaftlichkeitsprüfung gewappnet.

Hintergrundinformationen zu den Klassifikationen

  • ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)
  • ICD = International Classification of Diseases (Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)
  • ICIDH = International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen)

Auf der Website des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) können Sie die deutschsprachigen Übersetzungen der Klassifikationen einsehen oder als PDF kostenfrei herunterladen: www.dimdi.de

ICD und ICF gemeinsam anwenden

Die ICD gehört neben der ICF zu den gesundheitsrelevanten WHO-Klassifikationen. Im Gegensatz zu der ICF fokussiert sie jedoch Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme. Sie liefert den ätiologischen Rahmen des Gesundheitsproblems wie z.B. I63.3 Hirninfarkt durch Thrombose zerebraler Arterien, G81.0 Schlaffe Hemiparese, R47.0 Aphasie.

Aktuell gilt die ICD-10-GM (10. Revision, German Modification, Version 2020), die sowohl in der stationären Versorgung als auch in der ambulanten vertragsärztlichen Behandlung eine entscheidende Rolle für die jeweiligen Vergütungssysteme spielt.

Das Kodieren von ICD-10-Diagnosen dient vorrangig der Verschlüsselung für die Abrechnung und der statistischen Auswertung. Dokumente wie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Heilmittelverordnungen enthalten ICD-10 kodierte Diagnosen. Die Diagnose (ICD-10-GM), in Verbindung mit Informationen über die Funktionsfähigkeit (ICF), ermöglicht ein umfassendes Bild von der Gesundheit eines Menschen und den Auswirkungen eines Gesundheitsproblems auf unterschiedlichen Ebenen. Deshalb sollten beide Klassifikationen – ICF und ICD – gemeinsam verwendet werden.

Definitionen

Gesundheitsproblem: Oberbegriff für (akute oder chronische) Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen oder Traumata, aber auch für Phänomene wie Schwangerschaft, Altern, Stress, kongenitale Anomalien oder genetische Prädispositionen. Gesundheitsprobleme werden nach der ICD-10 kodiert.

Funktionsfähigkeit: Oberbegriff für Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe], der die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personbezogene Faktoren) bezeichnet.

Behinderung: Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Einschränkungen der Partizipation [Teilhabe], der die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren bezeichnet.

Körperfunktionen: Physiologische Funktionen von Körpersystemen (inkl. der psychologischen Funktionen)

Körperstrukturen: Strukturelle oder anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile

Schädigung: (vorübergehende oder dauerhafte) Beeinträchtigung einer Körperfunktion und/ oder -struktur

Aktivität: Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person (individuelle Perspektive der Funktionsfähigkeit)

Partizipation [Teilhabe]: Einbezogensein einer Person in eine Lebenssituation (gesellschaftliche Perspektive der Funktionsfähigkeit)

Beeinträchtigungen der Aktivität: Schwierigkeiten, die eine Person bei der Durchführung einer Aktivität haben kann, also eine quantitative oder qualitative Abweichung in der Durchführung der Aktivität in Bezug auf Art und Umfang

Einschränkungen der Partizipation [Teilhabe]: Probleme beim Einbezogensein in eine Lebenssituation, die eine Person erlebt. Das Vorhandensein einer Einschränkung wird durch den Vergleich mit der erwarteten Partizipation einer Person der entsprechenden Gesellschaft ohne Behinderung bestimmt.

Leistungsfähigkeit: Maximales Leistungsniveau einer Person in Bezug auf eine Aufgabe oder Handlung unter Test-, Standard- oder hypothetischen Bedingungen

Leistung: Tatsächliche Durchführung einer Aufgabe oder Handlung einer Person in ihrem gegenwärtigen Kontext

Umweltfaktoren: Äußere Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung

Ebene des Individuums: Die unmittelbare, persönliche Umwelt eines Menschen inkl. häuslicher Bereich, Arbeitsplatz und Schule […], persönlicher Kontakt zu Familie, Bekannten, Seinesgleichen (Peers) und Fremden

Ebene der Gesellschaft: Organisationen und Dienste in Bezug auf die Arbeitsumwelt, kommunale Aktivitäten, Behörden, Kommunikations- und Verkehrswesen sowie informelle soziale Netzwerke; Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle Regeln, Einstellungen und Weltanschauungen

Personbezogene Faktoren: Innere Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung. Kontextfaktoren, die sich auf die betrachtete Person beziehen, wie Geschlecht, Alter, Fitness, Gewohnheiten, sozialer Hintergrund, Bildung, Ausbildung, Beruf, Lebenserfahrung oder psychisches Leistungsvermögen

Förderfaktoren: Kontextfaktoren, die die Funktionsfähigkeit verbessern und eine Behinderung reduzieren

Barrieren: Kontextfaktoren, die die Funktionsfähigkeit einschränken und Behinderung schaffen

Quelle: DIMDI

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