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Nach öffentlichem Druck: Gesundheitsminister lädt Heilmittelerbringer zur Diskussion nach Berlin ein

Die Honorare der Heilmittelerbringer werden bis 2020 um rund 30 Prozent steigen. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch tatsächlich kommen die Erhöhungen zu spät, sind zu niedrig und werden noch viel später in den Praxen zu merken sein. Der Zorn vieler Therapeuten/Praxisinhaber entlädt sich seit Monaten in Aktionen, Demonstrationen und den Sozialen Medien – offenbar inzwischen so wahrnehmbar, dass Gesundheitsminister Jens Spahn jetzt Vertreter der Branche zu einem Gespräch eingeladen hat.
© iStock: maodesign

Die Vorgeschichte:

Seit Jahrzehnten dümpeln die Honorare der ambulanten Heilmittelerbringer in Deutschland vor sich hin. Offizielles Argument, warum die Vergütung nicht stärker angestiegen ist: die im SGB V verankerte Regelung, wonach die GKV-Honorare nicht stärker steigen dürfen, als die Entwicklung der Grundlohnsumme.

Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit, denn es hätte für die Heilmittelverbände, die die Vergütungsverhandlungen geführt haben, durchaus Möglichkeiten gegeben, mehr Schiedsverfahren anzustrengen, Verträge zurückzugeben oder grundsätzlich neue Strukturen der Vergütung zu verhandeln. Das ist aber faktisch nicht passiert. Ganz im Gegenteil, jeder Versuch die Vergütungsstrukturen auf anderen Wegen zu ändern – wir erinnern zum Beispiel an die Lymphkampagne – wurde sogar von einigen Verbänden torpediert.

HHVG und viele ungenutzte Chancen

2017 trat das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) in Kraft, das maßgeblich von Roy Kühne, Physiotherapeut, Bundestagsabgeordneter und CDU-Gesundheitspolitiker, initiiert und geprägt wurde. Mit dem HHVG wurde das Hauptargument gegen höhere Honorare abgeschafft: Die Anbindung der Honorare an die Entwicklung der Grundlohnsumme wurde ausgesetzt – für drei Jahre.

Doch die damit verbundene Möglichkeit, die GKV-Vergütungen auf ein wirtschaftlich angemessenes Niveau zu heben, wurde vertan. Die Diskussion darüber, wie viel Gehalt man angestellten Therapeuten bezahlen muss, damit sie im Beruf bleiben, wurde nicht geführt. Die Diskussion darüber, welche Kosten in den ambulanten Praxen, zum Beispiel für Fortbildungen, über das GKV-Honorar dringend refinanziert werden müssten, wurde nicht geführt. Die Diskussion, ob die GKV-Honorare ausreichend sind, damit Praxisinhaber eine Chance auf Altersvorsorge haben, wurde nicht geführt.

Eine strategische Denkpause, um gemeinsam die beste Verhandlungsstrategie zu entwickeln, wurde nicht gemacht. Stattdessen entbrannte ein überflüssiger Wettbewerb unter den Verbänden, wer in welchem Bundesland die höchste prozentuale Steigerung herausverhandelt hat.

Strukturelle Defizite weiter festgeschrieben

Dabei wurde gleichzeitig die Chance vertan, die offensichtlichen Fehler der Vergütungsstrukturen zu beheben. Die Honorarerhöhungen erfolgen überwiegend gleichmäßig, sodass immer noch gilt: Zertifikatspositionen werden schlechter bezahlt als normale Therapie und Physiotherapie als Gruppenbehandlung bleibt stark defizitär und kann deswegen nicht genutzt werden.

Als wäre das noch nicht genug, hat man die Preisvereinbarungen gleich mit einer Laufzeit von mehreren Jahren abgeschlossen. Das war unnötig und entpuppt sich jetzt als teurer Fehler, denn eine Anpassung an die aktuelle Entwicklung der Praxiskosten, wie zusätzliche Ausgaben aufgrund der DSGVO, Mietkostensteigerungen, o.ä., ist erst viel zu spät möglich.

Zorn der Therapeuten

Dieser Hintergrund erklärt die Wut vieler Therapeuten: Heilmittelverbände sind schwach aufgestellt (nicht einmal ein Drittel aller Therapeuten sind in ihnen organisiert), haben erstaunlich geringe finanzielle Mittel und können sich meistens nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Wer in einem Verband etwas bewirken will, muss sich durch die Instanzen kämpfen. Immer mehr Therapeuten fühlen sich nicht oder nur schlecht vertreten, können kaum nachvollziehen, welche Position ihr Verband eigentlich hat, wenn etwa Bundes- und Landesverbände mit unterschiedlichen Auffassungen aufwarten.

Das Gefühl, Einfluss auf Verhandlungen und politische Diskussionen nehmen zu können, haben die zornigen Therapeuten nicht. Deswegen kündigen sie die Mitgliedschaft, gründen fast im Monatstakt neue Interessengruppen und Aktionsgemeinschaften. Die Folge: Die Branche verzettelt sich mehr und mehr, die Diskussion innerhalb der Sozialen Medien dreht sich weniger um die notwendige Positionierung der Heilmittelerbringer im Gesundheitswesen 2030, sondern immer häufiger darum, wer Recht/Unrecht hat. Frust und der Zorn wachsen – und das ist mittlerweile auch der Politik klar.

Das Sofortprogramm

Mit dem „Sofortprogramm Therapieberufe“ hat Roy Kühne einen Vorschlag gemacht, wie man die Fehler der Vergangenheit beseitigen und gleichzeitig den Zorn der Therapeuten beschwichtigen kann: Der CDU-Gesundheitspolitiker fordert zusätzliche 1,8 Mrd. Euro GKV-Honorar für die ambulante Heilmitteltherapie, um die unzureichenden Verhandlungsergebnisse der Verbände zu kompensieren. Damit verbinden will er eine Neuordnung der Vergütungsverhandlungen im ambulanten Heilmittelbereich.

Das Sofortprogramm ist Gegenstand von Diskussionen innerhalb seiner Fraktion. Es hat dazu einen Fragenkatalog an das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gegeben. Die Antworten offenbaren eine tiefe Unwissenheit innerhalb des Ministeriums über die aktuelle finanzielle Situation der Branche. Bei einem Treffen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit den Vertretern der Heilmittelbranche soll über diese Forderungen gesprochen werden. Dem Vernehmen nach stehen alle Verbände geschlossen hinter dem Sofortprogramm.

Die Argumente

Der Fachkräftemangel im Heilmittelbereich ist eine Tatsache. Vorgesehene Änderungen beim Thema Schulgeld und am Berufsbild werden kurzfristig keine Lösung bringen. Tatsächlich brauchen die niedergelassenen Praxen schnell eine deutlich bessere Vergütung, um Fachkräfte zu halten und Therapeuten, die bereits wegen der besseren Bezahlung etwa in die Pflege abgewandert sind, wieder zurückzuholen. Es gibt keinen „Plan B“. Eine zusätzliche Honoraranpassung ist der einzige Weg. Folgende Punkte müssen Jens Spahn verdeutlicht werden, damit er deren Notwendigkeit versteht:

  • 80 Prozent der Therapeuten müssen ihre Ausbildung selbst finanzieren – im Gegensatz zum Beispiel zur Pflege, wo Auszubildende sogar eine Vergütung erhalten.
  • Zudem verdienen Therapeuten im Durchschnitt nur rund 2.200 Euro. Um auf das Durchschnittsniveau von Pflegekräften zu kommen, müssten angestellte Therapeuten heute 52 Prozent mehr verdienen. Dabei ist dann aber noch nicht der Unterschied bei der Ausbildungsvergütung ausgeglichen.
  • Damit Praxisinhaber ihren Angestellten 52 Prozent mehr Bruttogehalt zahlen können, müssten sie rund 80 Prozent mehr Honorar erhalten.
  • Die Unterschiede zu den TVÖD-Tarifen fallen noch deutlich höher aus als der obige Vergleich.
  • Die jährlichen Bürokratiekosten in Höhe von rund 1 Mrd. Euro, etwa für die DSGVO, erweitere Prüfpflichten bei den Verordnungen etc., sind zu keinem Zeitpunkt in den Honorarerhöhungen durch die GKV berücksichtigt oder gar kompensiert worden. Ganz anders bei den Ärzten: Dort wurde in der gerade abgeschlossenen Honorarverhandlung die DSGVO als Kostenfaktor zusätzlich berücksichtigt.
  • Außerdem hat die GKV seit dem 1. August 2018 die Zulassungsempfehlungen verändert. Jetzt muss jede Praxis mindestens 30 Stunden pro Woche geöffnet haben. Das sind zehn Stunden mehr als früher und auch zehn Stunden mehr als eine niedergelassene Arztpraxis für Kassenpatienten da sein muss. Bei den Ärzten versucht der Gesundheitsminister gerade die Öffnungszeiten von 20 auf 25 Stunden zu erhöhen – und jeder weiß, dass es dafür etwa 600 Millionen Euro mehr für die niedergelassenen Ärzte geben wird. Das wäre umgerechnet auf die Heilmittelerbringer ein Zuwachs von 1,2 Mrd. Euro.

Diese Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Vermutlich haben die am Gespräch teilnehmenden Kollegen noch viele weitere Argumente.

Das darf nicht passieren

Das Gespräch bei Jens Spahn kann nur ein Ziel haben: die geforderten 1,8 Mrd. Euro zu bekommen. Nebenthemen, die man auf den Tisch bringt, werden automatisch dazu führen, dass die zentrale Forderung in den Hintergrund tritt. Unbedingt vermeiden sollten die Gesprächspartner auf Seiten der Heilmittelerbringer also folgende Fehler:

  • Nicht über Gewinn reden: Der Gewinn, den eine Praxis macht, hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Gesellschaftsform (GmbH oder GbR), von den Stunden, den der oder die Inhaber noch selbst therapieren, ob man zur Miete oder in eigenen Räumen arbeitet etc. Gewinn ist kein klar definierter Begriff, sondern eine Sammelbezeichnung unter der jeder Mensch etwas anderes versteht! Gewinn könnte man nur vergleichen und diskutieren, wenn sichergestellt ist, dass alle sonstigen Rahmenbedingungen identisch sind.
  • Neiddebatte vermeiden: Wer Gewinne vergleicht, wird immer verlieren. Dem einen erscheinen Gewinne zu hoch, der andere findet sie viel zu niedrig. Egal wie, Gewinn-Diskussionen führen stets auch zu Neiddebatten. Immer daran denken, es geht darum, Fachkräftemangel zu vermeiden und deswegen Therapeuten angemessen zu bezahlen!
  • Keine Tauschgeschäfte Einfluss gegen Geld: Bietet Jens Spahn an, zum Beispiel einen Sitz im G-BA zur Verfügung zu stellen, wenn es dafür nur die Hälfte des geforderten Betrags gibt, sofort abwinken! Ein Sitz im G-BA nützt gerade überhaupt nichts. Durchsetzen könnte man dort aktuell nichts. Bis der Sitz frei wird, ist die Heilmittel-Richtlinie längst gekürzt. Es gibt aktuell kein besseres Rezept gegen Fachkräftemangel und Versorgungsengpässe als die notwendige Honoraranpassung.
  • Nicht auseinanderdividieren lassen: Das Schlimmste, was passieren kann, ist die Uneinigkeit der Vertreter der Heilmittelverbände untereinander und ein Abweichen von den Positionen des Sofortprogramms. In dem Moment, in dem ein Verband einen Kompromiss eingeht, sollten alle Mitglieder sofort austreten! Solche Honorarnachforderungen kann man nur geschlossen und gemeinsam durchsetzen!
  • Keine Kompromisse: Bei den aktuellen Forderungen wäre es fahrlässig einen Mittelweg finden zu wollen. Denn jeder Kompromiss würde bei den zornigen Therapeuten an der Basis für weiteren Frust und Ärger sorgen. Das kann nicht im Sinne der Verbände und auch nicht im Sinne des Gesundheitsministers sein.
Anmerkung: Kritische Berichterstattung über Aktivitäten der Verbände ist kein Widerspruch dazu, dass wir starke Verbände für wichtig halten. Die up-Redaktion möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir es für absolut notwendig halten, dass Therapeuten in Verbänden organisiert sind. Je mehr Therapeuten sich in Verbänden organisieren, desto besser!
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Gabriela Keller
03.09.2018 2:39

Ich bin begeistert über diese Recherche und die Schlussfolgerungen. Tausend… Weiterlesen »

J. T.
02.09.2018 15:25

Sehr gute Darstellung der Problematik, genau auf den Punkt gebracht.… Weiterlesen »

Thomas Plattner
31.08.2018 21:48

Die Argumente von Herrn Kühne in seinem Sofortprogramm sind zu… Weiterlesen »

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